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Ahnengalerie – NS-Richter und Bundesarbeitsgericht

I.

In den letzten Wochen wurde ich des Öfteren auf meine Vergangenheit als Richter beim Bundesarbeitsgericht angesprochen. Dort – im Gerichtsgebäude auf dem Petersberg in Erfurt – gebe es in einem besonderen Raum eine Ahnengalerie, wo alte Nazis geehrt würden. Ob mir das nie aufgefallen sei. Und was man so dazu sage.

II.

Was hat es damit auf sich? Wenn man die Stichworte »Nazi« und »Bundesarbeitsgericht« bei Google eingibt, wird man schnell fündig.  Beispiele aus den letzten Wochen:

»Bundesarbeitsgericht: Richter mit NS-Vergangenheit … www.tagesschau.de › investigativ › fakt › bundesarbeits …«

oder

»02.12.2020 — ›Den Nazis angedient‹ NS-Belastungen in der beruflichen Karriere treffen auch zu auf den ehemaligen Richter am Bundesarbeitsgericht…«

Man stößt auch auf einen Dokumentar-Film, der Anfang Dezember vom MDR ausgestrahlt wurde. Titel:

»Die Dritte Schuld: NS-Richter am Bundesarbeitsgericht«

III.

All diesen Meldungen liegen Forschungen zugrunde, die der Erfurter Landrichter Martin Borowsky angestellt hat. Er untersuchte die beruflichen Werdegänge von Richtern, die zwischen 1954 und Anfang der 80er Jahre am Bundesarbeitsgericht (damals in Kassel) gearbeitet hatten. Er fand heraus, dass einige von ihnen in der NS-Zeit eine unrühmliche, teilweise schreckliche Rolle gespielt hatten. Manches davon war seit Längerem bekannt. Zum Beispiel, dass der erste Präsident des Gerichts, Hans-Carl Nipperdey (geb. 21. Januar 1895 in Bad Berka – gest. 21. November 1968 in Köln), das nationalsozialistische Arbeitsrecht an führender Stelle befördert hatte. Was viele nicht wussten (ich zum Beispiel), war, dass Willy Martel (von 1956 bis 1966 Richter am Bundesarbeitsgericht) als Richter an einem Sondergericht 1942 einen jungen Mann wegen kleiner Diebstähle »zur wirksamen Abschreckung und gerechten Sühne … nach gesundem Volksempfinden« zum Tode verurteilt hatte, und zwar, obwohl sich sogar der Staatsanwalt und der Gefängnisdirektor für ihn eingesetzt hatten. Auch von den Machenschaften des Georg Schröder (Richter am BAG von 1956 bis 1973) hatte ich nichts gewusst: Er war ab 1940 Leiter der Abteilung »Feindvermögen« in den damals besetzten Niederlanden. »Unter seiner Leitung«, so die MDR-Dokumentation »wurden die jüdischen Unternehmen ›arisiert‹ und jüdisches Vermögen beschlagnahmt. Rund eine Milliarde Gulden wurden nach Schätzungen in den Niederlanden geraubt.«

IV.

Es ist schlichtweg erschütternd, was hier ans Licht kam. Beim Betrachten des Dokumentarfilms packte mich wieder und wieder das kalte Grausen. Die bestürzenden Einzelheiten gehen mir ständig durch den Kopf. Insbesondere das Todesurteil gegen den 21jährigen Paketdieb Ferdinand Hans. Nach der Hinrichtung wurde sein Leichnam in das Anatomische Institut der Universität Tübingen überführt, wo er für wissenschaftliche Zwecke genutzt werden sollte. Weil die Mutter die Beerdigung nicht bezahlen konnte.

V.

So schwer es fällt, unter dem Eindruck so schrecklicher Dinge überhaupt weiterzusprechen, muss doch noch etwas gesagt werden zu der »Ahnengalerie«. Von ihr ist in der MDR-Dokumentation in einem abschätzigen Ton die Rede, als ob dort regelmäßig rituelle Huldigungen gegenüber alten Nazis stattfänden. Das ist natürlich Unsinn. Ja, die Bildersammlung gibt es, inzwischen auf zwei Räume im Obergeschoss des Bundesarbeitsgerichts verteilt, tatsächlich. Dort hängen, in der Reihenfolge ihres Ausscheidens aus den Diensten des Gerichts, Portrait-Fotos aller ehemaligen Richterinnen und Richter des Bundesarbeitsgerichts (also auch von Willy Martel und Georg Schröder) und – gesondert – Öl-Gemälde mit den Konterfeis ehemaliger Präsidenten. Irgendwelche preisende Erläuterungen zu den Lebensläufen finden sich nicht. Es ist eine Dokumentation. Den Betrachter schauen einfach Gesichter an, es sind Brustbilder, so dass man die jeweilige Amtstracht erkennt. Ist das eine Ehrung? Sollte man die Porträts der alten Nazis abhängen?

Ich bin über ein Jahrzehnt lang mindestens einmal in der Woche an der »Ahnengalerie« vorbeigegangen. Ich kann nicht behaupten, dass ich mir die Bilder oft oder gar genau oder in ehrender Absicht angeschaut hätte. Ich glaube, die meisten der jüngeren Richter, zu denen ja jeder anfangs zählt, nehmen die Bildnisse ihrer Amtsvorgänger, wenn ich nicht ganz falsch liege, mit einem gewissen Überlegenheitsgefühl zur Kenntnis, manchmal mit einem mehr oder weniger stillen Spott, hier und da vielleicht auch mit etwas Anerkennung, wenn man persönliche (und angenehme) Erinnerungen mit dem Portraitierten verbindet. Von ehrendem Angedenken im Sinne einer arbeitsrechtlichen Walhalla kann da sicher nicht die Rede sein, zumal auch die architektonische Gestaltung des Gebäudes am Petersberg dem Aufkommen irgendwelcher, erst recht angenehmer Gefühlswallungen zuverlässig entgegenwirkt. Manche der alten Gesichter bekommen, wenn überhaupt, Kommentare von der Art: Dem möchtest Du nicht im Dunkeln begegnen. Einige der Fotos aus den fünfziger und sechziger Jahren zeigen, das muss man leider zugeben, abschreckende Physiognomien: So wie man sich früher Richtergesichter vorstellte: Kalt, feindselig, versteinert. Die sehen aus, sagte mir mal ein leider verstorbener – und jetzt auch in der Galerie »hängender« – Kollege, wie Giuseppe Archimboldo seinen berühmten »Giurista« gemalt hat – regelrecht abstoßend, mit einem Gesicht aus Kröten und alten Fischen. Vielleicht liegt das aber auch nur an den Fotografen der 50er und 60er Jahre oder an der damals herrschenden Stilrichtung der Rentner-Ikonographie. Und die meisten sehen einfach nur wie Pensionäre aus. Manche lächeln sogar. Was auch nicht immer ein gutes Zeichen sein muss.

VI.

Abhängen würde ich – auch unter dem Eindruck der neuen Erkenntnisse – keines der Bilder. Man wird die Vergangenheit nicht los, indem man alte Bilder in den Keller bringt. Abgesehen davon, dass solche Retouchen auch immer etwas von Geschichtsklitterung haben. Ich glaube auch nicht, dass man dem einen oder anderen ein Hakenkreuz an die Robe kleben müsste. Das wäre in den 50er, 60er Jahren ein mutiger Akt gewesen. Aber heute? Ein bisschen billig. Und wer weiß, ob sich einer von ihnen später geschämt oder bekehrt hat? Man kennt nie die ganze Geschichte eines Menschen. Wer weiß, wie mutig wir Heutigen in den 30er Jahren gewesen wären? Wer weiß, welchen Ansichten wir heute frönen, die in 60 Jahren als rechtsvergessen und vorsintflutlich gelten werden?

VII.

Für sehr problematisch halte ich den Gedanken, der im Titel des MDR-Dokumentarfilms aufscheint: »Die Dritte Schuld«. Was genau damit gemeint ist, weiß ich nicht. Aber es soll ja wohl so klingen, als ob sich irgendjemand heute schuldig macht, der zwar selbst kein Verbrechen begangen hat, sich aber nicht in der, von wem auch immer, als angemessen erkannten Weise von vergangenen Verbrechen distanziert. Die Schuld, so ist wohl die Vorstellung, pflanzt sich fast so automatisch und schicksalhaft fort wie bei der Erbsünde nach christlicher Lehre. Ich denke, von den seit den 90er Jahren aktiv gewesenen und erst recht von den heute aktiven Richterinnen und Richtern beim Bundesarbeitsgericht trägt keiner für die Naziverbrechen eine persönliche Schuld – und was sollte Schuld sein, wenn nicht etwas Persönliches.

VIII.

Trotzdem spürt man, glaube ich, dass man sich, jedenfalls als Richter, und schon gar am Bundesarbeitsgericht, an den Erkenntnissen und Erschütterungen, die nun hinzugekommen sind, nicht bürokratisch vorbeidrücken kann. Mein Gefühl sagt mir, dass es eine Reaktion geben muss. Es ist sicher schwer, die richtige Reaktion zu finden. Nur: »Schuld«, schon gar »dritte Schuld« ist mit Sicherheit das falsche Wort für das, worum es gehen kann. Worum es gehen muss, ist etwas anderes: Unmenschliche Urteile, schreiende Ungerechtigkeiten, richterliches Versagen – das sind Dinge, die in jeder Zeit geschehen können, auch heute, und die nicht passieren dürfen. Kein Richter ist jedoch vor dem Irrtum gefeit. Kein Richter ist davor sicher, dass er sich Haltungen zu eigen macht, die heute als mehrheitsfähig gelten und in späteren Zeiten als bitterfalsch erkannt werden. Und deshalb sollte das Bewusstsein dafür, dass das so ist, bei allen Richtern aktiv vorhanden sein.

IX.

Oder wollen wir sagen: Das, was im Nationalsozialismus durch Richter geschehen ist, war so weit von allem Menschlichen entfernt, dass es inkommensurabel ist und mit »Ungerechtigkeit«, »richterlichem Versagen« oder »Irrtum« nichts zu tun hat. Das wäre natürlich äußerst bequem: Man könnte sich mit ziemlich kostenlosen Bekenntnissen des Abscheus aus dem Gespräch verabschieden und es würde tatsächlich ausreichen, die als Verbrecher im Talar identifizierten Personen aus dem Gedächtnis zu streichen und ihre Bilder ins Feuer zu werfen. Ich glaube, das wäre falsch. Und ich fürchte, dass die Fähigkeit von Menschen und folglich auch von Richterinnen und Richtern zum Fanatismus, zu Bosheit, Machtmissbrauch, Gehässigkeit und – auch scheinbar bürokratisch korrekter – Menschenverachtung nicht mit dem Ende der Nazizeit verschwunden ist. Unsere heutige Rechtsordnung begünstigt solche Auswüchse nicht, aber dennoch lohnt es sich immer, die Bedingungen zu studieren, unter denen sich die Gerechtigkeit in den Verliesen der Gerichtspaläste verstecken muss. Die Geschichte der Menschheit hat genügend Vorrat an wohldokumentierten Fehlurteilen, und bei den meisten spielt die Bereitschaft von Richtern, sich den Hassgefühlen des Volks oder den Machtgelüsten der Herrscher anzubequemen, eine große Rolle: Von den Todesurteilen gegen Sokrates, Jesus Christus, Giordano Bruno bis zu den Urteilen der DDR-Justiz gegen Republikflüchtlinge und zum Urteil Nr. 3901 des Pekinger Volksgerichts vom 25. Dezember 2009, mit dem der Dichter Liu Xiao Bo zu 11 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

X.

Vielleicht sollte man die schrecklichen, aber eben doch verdienstvollen neuen Erkenntnisse zum Anlass nehmen, einen Diskurs über die Gefährdungen der Justiz einzuleiten. Einen Anfang könnte man machen, indem man in der Nähe der »Ahnengalerie« an den armen Paketträger Ferdinand Hans erinnert, vielleicht mit einer würdigen Gedenktafel. Das kostet Überwindung und Mühe, aber nicht viel Geld. Betrachter hätten die Chance, das Schicksal des Hingerichteten mit dem seltsam weichen und harmlosen Gesichtsausdruck des gealterten Bundesrichters Willy Martel abzugleichen. Sie könnten über die Abgründe nachdenken, die sich hinter zur Schau gestellter – nicht nur justizieller – Normalität verbergen können. Ich glaube, das Bundesarbeitsgericht würde mit einer solchen Art der Auseinandersetzung Ehre einlegen. Und vor allem klarstellen, dass Recht eine eigene Werte-Dimension der menschlichen Kultur ist und nicht ein allzeit wohlfeiles Instrument der Macht.

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