Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid, Folge 12: Flüsse haben Rechte, sagte schon Ovid Met. I, 568–582 (15.07.22)
I. Können Flüsse Rechte haben?
Nach der herkömmlichen Vorstellung der Juristen können nur Menschen Recht haben. Das ist allerdings heute nicht mehr in Stein gemeißelt. Vor allem Umweltschützer fordern seit längerer Zeit, auch naturgegebenen »Wesen« Rechte zuzusprechen. In den Vereinigten Staaten ist man da schon einen Schritt weiter: Am 3. November 2020 wurde in Orange County, Florida, der folgende Zusatz in die Landkreisordnung aufgenommen
»Der Wekiva River und der Econlockhatchee River … und alle anderen Gewässer innerhalb der Grenzen von Orange County haben ein Recht zu existieren, zu fließen, vor Verschmutzung geschützt zu werden und ein gesundes Ökosystem zu erhalten.«
II. Ovid und das Recht der Flüsse
Man könnte das Ganze für eine Schnapsidee überkandidelter Umweltaktivisten halten. Denn natürlich können Flüsse, Berge und Tiere nicht selbst Klagen bei Gericht erheben. Erstaunlich ist aber doch, dass das Denken der Umweltfreunde in gewisser Weise Vorgänger hat. In der griechischen Mythologie zum Beispiel wurden Flüsse nicht nur einfach als daherfließendes Wasser betrachtet, sondern als eigene göttliche Wesen angesehen.
III. »undis iura dabat nymphisque« – »Den Wellen und den Nymphen gab er Rechtsbescheid« Met. I, 568-582
Die Flussgötter konnten reden, sie konnten sich freuen, sie konnten trauern, sie hatten Kinder, vor allem weibliche, nämlich die berühmten Flussnymphen. Es gab eine Hierarchie, man unterschied zwischen Hauptfluss- und Nebenfluss-Göttern, und offenbar gab es aufgrund dieser doch auffallend menschenähnlichen Sozialverhältnisse auch Streit. Und folglich auch Gerichte. Ovid beschreibt die Verhältnisse in Vers 568 bis 582 des Ersten Buchs seiner Metamorphosen (hier in einigermaßen originalgetreuer Prosaübersetzung) so:
»Es gibt in Thessalien eine tief ins Land eingekerbte Schlucht, Wald umschließt sie von allen Seiten, Tempe wird sie genannt. Und der Fluss, der seine schäumenden und spritzenden Wogen durch dieses Tal rollt, heißt Pinäus, der am Eingang des Tals schon einen langen Weg hinter sich hat. Er entspringt am Fuße des Pindosgebirges, weit nördlich in Mazedonien. Und überall, wo er in seinem wilden Lauf durch das Tempetal fällt und stürzt und schießt und springt, steigen feinste Schleier aus Wassernebeln auf, verdichten sich zu einem Dunst und benetzen mit ihren Tropfen die Wipfel der Bäume, und das Tosen des Wassers betäubt mehr als nur das, was nah ist. Hier ist das Haus, hier ist der Wohnsitz, hier sind die Innengemächer, hier wohnte in felsiger, kantiger, mächtiger Grotte Pinäus, der Flussgott, hier spricht er Recht den Wassern und auch den wasserbewohnenden Nymphen. Hierhin (zum Gericht) kamen sie alle, die kleinen und größeren Nebenflüsse, der alte und müde Bach Apidanus, Sperchius, schön und pappelumsäumt, ungeduldig Eripeus, auch Amphrysus, der lieblichsanfte Verführer, und die vielen vielversprechenden reizenden Nymphen, ach, auch alle anderen kamen, die, von endlos schweifenden Irrwegen müde geworden, endlich mit letzter Kraft ihre Wellen schleppen ins Meer.«
IV. Zuviel versprochen?
Leider erfahren wir von Ovid in den Metamorphosen nicht mehr als diese wenigen Aussagen über den Gerichtshof des Flussgottes Pinäus. Und auch in Lexika habe ich keine Informationen über die Rechtsprechung des Gerichtshofs vom Tempeptal gefunden. Es ist also Phantasie gefragt. Man kann sich den erfahrenen, von weither kommenden Flußgott Pinäus vorstellen in seiner Grotte, wie er vor sich hin murmelt und die kleinen Götter der Nebenflüsse zur Gerichtsverhandlung empfängt. Worüber mögen sie sich beklagen? Vielleicht sind dem einen die lustigen Fische entflohen, dem anderen wurde womöglich der Weg von einem unverschämten Gebirgswildbach abgeschnitten, so dass er sein Bett verlassen musste, und einem dritten ist sein Verlauf zu krumm und zu steinig oder im Gegenteil: Er droht im angespülten Sand zu versickern. Und der kluge Pinäus hört ihnen zu, vielleicht geschieht ihm auch, was manchem menschlichen Richter geschieht, wenn er eine Zeitlang dem Geplätscher der Klagen und Einwände zugehört hat, er wird müde und legt ein Nickerchen ein. Und dann, nachdem er ein wenig geträumt hat, bringt er ein entschlossenes Rauschen hervor: Das Urteil. Ein Spiel der Wellen, sagt er, ist das Recht, ein ewiges Auf und Ab ist der Kampf ums Recht, ich habe euch angehört und nachgedacht, und mein Urteil ist dies: Das Leben, ihr Lieben, ist immer im Fluss, und das Recht ist es auch, wie sollte es nicht, da es dem Leben dient, es fließt aus tausend Quellen, aus trüben und hellen, aus zarten und schnellen, aus wilden und zahmen, in krummen Bahnen, es spricht oft in Rätseln und der einzige Trost, den ich euch geben kann, liegt darin, dass, nach allen Kämpfen und Mäandern, nach all dem wütenden Schäumen und krachendem Stürzen, die kleinen und großen, die komplizierten und geradlinigen, ja alle Wasser sich endlich vereinen, lasst es mich sagen in der Sprache der Philosophen: Gerechtigkeit wird hergestellt durch gemeinschaftliche Bewegung hin zum Meer des Lebens: »Ariston men hydor« sagte Pindar, das Beste aber ist Wasser.
Der Beifall der Wellen und Nymphen, der Nebenflüsse und Rieselbäche war gewaltig und kam aus der Tiefe der flüssigen Seelen.
Fortsetzung folgt