3441

Neue Beiträge

Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid, Folge 5: Gerechtigkeit ist Freiheit von Regeln – Das Goldene Zeitalter (15.05.21)

I. Eine Welt ohne Zeit

Vor dem Anfang der Welt, als die Welt noch nicht existierte, gab es vermutlich auch keine Zeit, ganz genau wissen wir das nicht. Vielleicht gab es eine Zeit, aber niemand hat sie bemerkt, sie war an einem unzugänglichen Ort zum Beispiel, oder sie war in einer gewissen Form des Tiefschlafs befangen und konnte nicht ihren heutigen Auftritt hinlegen, mit dem sie uns in Gestalt von Kalendern und Uhren, Wecktönen und Lichtsignalen durch unsere Tage und unsere Werke jagt. Oder sie war noch in einem Verpuppungszustand. Sie war eine Larve, oder sie war viele Larven, aus denen in jeder Sekunde neue Schmetterlinge hervorgingen, Farbe je nach Stimmung und Wetter, Frühlingsfalter, Kohlweißlinge und Ochsenaugen, Gemeine Bluttröpfchen und Sphinxen bei Nacht.

Ovid aber ist in diesem Fall, was also die Geburt der Zeit betrifft, kein Freund von Abschweifungen. Er schildert die nach Erschaffung der Welt und der Menschen sich allmählich auswickelnde Zeit. Er fängt an, wo es anfängt: Mit dem goldenen Zeitalter, das aber nicht einfach so da ist; es wurde vielmehr erzeugt: »sata est« schreibt Ovid, und das  heißt genau genommen »sie wurde gesät«.

II. Das Goldene Zeitalter wird gesät (Met. I 89–113)

»Golden war das erste der Zeitalter, welches gesät ward,
weder Kläger gab es noch Angeklagte damals,
freiwillig, ohne Zwang von Gesetzen tat jeder das Gute und Rechte.
Strafe und Angst und drohende Worte kannte man nicht,
nirgendwo stand ›Verboten‹ auf Schildern, niemand musste um
Gnade flehen, jeder war sicher, man brauchte keine
Hüter der Ordnung. Auch Bäume, um Schiffe zu bauen,
Fällte man nicht, denn niemand fühlte Verlangen, die Bucht, in
welcher er lebte, jemals zu verlassen. Die Städte waren auch
nicht mit Gräben und Mauern befestigt. Soldatenmusik und
Schlachtenmärsche – sie waren noch nicht erfunden, waffenlos
lebten die Menschen, sicher, wunschlos, behaglich und gut, in
Ruhe und Muße. Die Erde gab damals, unverwundet von
Pflug und Hacke freiwillig Korn und Früchte so viel man
brauchte. Pläne machte man nicht, niemand wurde
jemals zu etwas gedrängt und gezwungen. Die Menschen
waren zufrieden mit dem was sie fanden. Walderdbeeren und
Äpfel, Kornelkirschen, Brombeeren pflückten sie sich aus
stachligen Sträuchern. Und Eicheln sammelten sie vom Boden,
Früchte von Jupiters mächtigem weitausladendem Baum.
Ewiger Frühling herrschte, liebenswürdig wehte der
Westwind und fächelte Blumen, die niemand gesät hatte, bald schon
brachte die niemals gepflügte Erde Getreide hervor und mühelos
wuchsen goldene Kornfelder, glänzend von schweren Ähren.
Ströme von Milch, ja Ströme von süßen Säften flossen, von
grünenden Steineichenblättern tropfte der gelbe Honig.«

III. Zum Glück keine Regeln

Wenn man heute über Gerechtigkeitsideale nachdenkt, dann besteht das Ergebnis häufig in Regeln für gute Gesetze und vernünftige Grenzziehungen, Gewährung von gleichen Rechten, zum Beispiel am Boden, am Genuss der Natur, dem Recht auf Urlaubsfahrten, gesunde Ernährung undsoweiter, fortschrittliche Ausbildung der Richter und sonstigen Ordnungshüter, »gute Polizey« nannte man das in früheren Zeiten.

Hält man Ovids Traum vom goldenen Zeitalter dagegen, so erkennt man schnell, dass es für ihn nicht gute Regeln sind, die zu Glück und Gerechtigkeit führen,  sondern gar keine, nicht gerechte Richter, sondern gar keine, nicht schöne Reisen, sondern gar keine, auch keine Soldaten, keine Polizisten, keine Gesetze, keine Verbote, keine Gebote. Unumschränkte Freiheit ist das schönste, was Ovid sich vorstellen kann.

Wir finden solche Gedanken auch in der Bibel, und zwar da, wo man sie kaum vermuten würde; im Siebenten Kapitel des Paulus-Briefes an die Römer heißt es: »Ich lebte einst ohne Gesetz; als aber das Gebot kam, wurde die Sünde lebendig …«

Und nach Bernhard de Mandevilles (1670–1733) Bienenfabel (oder: »Vom Nutzen des privaten Lasters für das öffentliche Glück«) sind es gerade die Übertretungen der moralischen Verbote, die den Fortschritt der Menschheit ermöglichen: »Bei all dem sündlichen Gewimmel / Wars doch am Ende wie im Himmel.«

Fortsetzung folgt

Textsuche

Neben der freien Textsuche und dem Schlagwortregister besteht an dieser Stelle die Möglichkeit, die Suche nach bestimmten Texten weiter einzugrenzen. Sie können die Suchfelder »Schlagwort« und »Jahr« einzeln oder in Kombination mit den anderen beiden Feldern verwenden. Um die Suche auszulösen, drücken Sie bitte die Enter-Taste; zum Auffinden der jeweiligen Textstelle benutzen Sie bitte die Suchfunktion Ihres Browsers.