Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid, Folge 8: Überschwemmung und Schuld Met. I, 253–313 (01.08.21)
I. Sintflut
Der Gedanke, dass Naturkatastrophen auf irgendeine kausale Weise mit menschlichem Fehlverhalten zusammenhängen, also eher nicht von der großen blinden Natur, sondern von der Unnatur des Menschen sehenden Auges verursacht sind, muss alt sein. Fast immer, wenn die Wälder brennen, das Leben einfriert oder die Wolken sich ausschütten, beginnt die nachgerade rituelle Suche nach jemandem, dem wir das Malheur in die Schuhe schieben können. Jemand muss Schuld haben. Mit der doch immerhin bestehenden Möglichkeit, dass etwas Schlimmes geschehen könnte, ohne, dass jemand haftbar zu machen wäre, befassen wir uns nicht so gerne. Das scheint auch früher nicht anders gewesen zu sein. Jedenfalls begegnen wir der gedanklichen Verknüpfung von Katastrophe und menschlicher Schuld schon in den frühesten literarischen Zeugnissen der Menschheit.
Aus dem Alten Testament kennen wir die Geschichte von der Sintflut, jener weltumspannenden Überschwemmung, mit der Jehova die Menschheit für ihren gottfernen Lebenswandel bestrafen wollte, sich dann aber anders partiell besann: Einige Geschöpfe durften überleben, der rechtschaffene Noah, seine Frau und die Tiere in der Arche. Ähnliche Erzählungen nach dem Muster Überschwemmung und Strafe gibt es in vielen Kulturen. Und bis heute versuchen Forscher herauszufinden, ob sich eine sintflutähnliche Katastrophe tatsächlich irgendwann einmal zugetragen hat.
Möglicherweise sind die vielen Sintflutgeschichten ja auch eine tief im Bewusstsein der Menschen schlummernde Erinnerung an die Entstehung des Lebens aus dem Wasser. Und zugleich der Versuch mit einer Besonderheit zurechtzukommen, die den Menschen, soweit man das wissen kann, vom Tier unterscheidet, nämlich die Möglichkeit Schuld zu empfinden und sich durch die Erfindung oder Beobachtung göttlicher Eingriffe davon zu befreien.
In den Metamorphosen führt Ovid die Sintflutgeschichte in etwa nach dem bekannten Muster vor. Auch hier ist die große Wässerung Folge von Fehlern, die Menschen begangen haben. Vor allem ihr Hochmut missfällt den Göttern, die Schamlosigkeit, sich mit einem Gott zu verwechseln, die ja schon Adam und Eva so übel bekommen ist.
II. Sintflut de luxe
Der Unterschied zwischen Ovids Erzählung und der biblischen Geschichte liegt darin, dass die Bibel äußerst karg in der Beschreibung von Einzelheiten ist, wodurch der moralische Aspekt (Strafe für die Menschheit) besonders schroff hervortritt. Ovid dagegen schmückt die Katastrophe aus – zu einem beinahe surrealen, prallen Gemälde:
Juppiter/Zeus, der angesichts der Unverschämtheiten, die sich die Menschen erlauben, kurz vorher angekündigt hatte, er werde eine Möglichkeit finden, die Menschheit einerseits auszurotten, sie andererseits aber doch nicht ganz untergehen zu lassen, erwägt, die Erde in Brand zu setzen. Er sortiert schon die Blitze und spielt mit den Fackeln, als ihm plötzlich bewusst wird, dass ein Weltenbrand auch den Olymp in Mitleidenschaft ziehen könnte. Man möchte als Gott ungerne angekokelt werden. In diese Richtung, nämlich auf die Gefahr einer den Olymp schädigenden Feuersbrunst, weist auch der Spruch einer uralten Wahrsagerin oder Prophetin, eine Weissagung, an die sich Zeus erinnert und die er beschließt ernst zu nehmen. (Was uns christlich aufgewachsene Menschen staunen macht: Denn es zeigt, dass der griechisch-römische Göttervater weder immer allwissend noch allmächtig ist. Andernfalls könnte ja prophezeit werden was will, er wüsste es schon und es stünde in seiner Macht es zu verhindern. Unser Jehova und Gottvater hat es jedenfalls nicht nötig, durch alte Horoskope an irgendetwas erinnert zu werden.)
Wie auch immer: Juppiter überlegt, was zu machen wäre. Auch dies ist ein Zug, den wir beim christlich-jüdischen Gott nicht finden. Juppiter ist ein nachdenklicher Gott, ja ein kollegialer Gott, der sogar andere Meinungen anhört. Auch in der Frage nach dem rechten Weg zur Vernichtung des Menschengeschlechts folgt er dem deliberativen Führungsstil: Nach Beratung mit seinem Bruder, dem Meeresherrscher Poseidon, kommt ihm der Gedanke, die Menschheit nicht zu verbrennen, sondern ganz im Gegenteil, er will sie ersäufen. Genau, sagt der Meeresbeherrscher Poseidon, ersäufen ist sehr gut, und beruft eine Versammlung sämtlicher Wassergottheiten ein, mancherlei Geschlechts und verschiedenster Herkunft, denn Poseidon beherrscht nicht alles Wässrige, sondern nur das Meer. Die anderen Gewässer, Flüsse, Seen, Quellen, Tümpel und Pfützen haben ihre eigenen Gottheiten.
Nach kurzer Beratung öffnen sie alle und ausnahmslos die Schleusen, überspülen die Sandbänke, fluten die Strände, überfallen die Ufer, wässern die Felder, die Wälder, die Felsen, die Hügel, die Täler, überschwemmen die Dörfer und Städte, die Heiligtümer und die Unheiligtümer und das Ergebnis für die Menschen ist wahrhaft katastrophal. Hier einige Verse (I,293–312) in einigermaßen wörtlicher Übersetzung, allerdings nicht in Hexametern, sondern in ungebundener Prosa:
»der eine rettet sich auf einen hügel und schlägt dort sein lager auf, bis ihn das wasser auch dort erreicht, ein anderer springt ins boot und rudert um sein leben, genau da, wo er kurz zuvor noch den acker umgrub. wieder einer sitzt im segelboot und betrachtet unter sich im wasser das dach seines hauses und das feld, auf das er eben noch die saat ausgeworfen hatte. mancher fängt fische in den wipfeln der ulmenbäume. anker schlagen in obstwiesen, und wo das wasser noch nicht so hoch ist, schleifen die gebogenen kiele der schiffe über rebstöcke und trauben. bergrücken sind zu sandbänken geworden, wo eben noch grazile ziegen an gräsern und körnern knusperten, sieht man jetzt fette robben, die sich räkeln. meernymphen tauchen in die tiefe und bewundern die büsche, die häuser, die städte. delphine erobern die wälder, schlagen mit den flossen an äste und zweige, die leise erzittern. ein wolf schwimmt zwischen den schafen …«
Zwei Menschen überleben die große Flut. Wie sie heißen und wie es weiterging, ist Gegenstand der Verse 313–415.
(Fortsetzung folgt)