Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid, Folge 9: Deukalion und Pyrrha, Met. I, 314–415 (01.09.21)
I. Die Überlebenden
In der biblischen Sintflutgeschichte gibt es fünf überlebende Menschen. Ein Mann, eine Frau und ihre drei Söhne. Der Mann heißt Noah, die Frau bleibt im Alten Testament namenlos. Noch nicht einmal in dem Play-Mobil-Kasten 9373 »Wild Life – Arche Noah« (59,80 Euro, Arche schwimmfähig inkl. Landungssteg, mit Unterwassermotor aufrüstbar) ist ihr ein Name zugewiesen. (Dass sie »Gisela« hieß, wie der Theologe und Journalist Thomas Jansen scherzhaft vorschlägt (https://www.katholisch.de/artikel/17602-papa-wie-heisst-die-frau-auf-der-arche-noah), dürfte eher unwahrscheinlich sein.)
II. Verwandtschaftsverhältnisse
In Ovids Metamorphosen gibt es nur zwei Überlebende, eine Frau namens Pyrrha und einen Mann, der Deukalion heißt. Der Name Pyrrha erinnert an das griechische Wort für Feuer (pyr). Bei Deukalion weiß man noch weniger genau, was der Name bedeutet, vielleicht hängt »Deu« mit Zeus zusammen und das »kalion« mit Schiffsholz. Deukalion ist übrigens der Sohn des allseits bekannten Gottes Prometheus, des Vordenkers der menschlichen Zivilisation, der Zeus schlechtes Opferfleisch andrehen wollte und zur Strafe im Kaukasus an einen Felsen geschmiedet wurde. Pyrrha wiederum ist die Tochter der Pandora (die Frau mit der Büchse) und des Epimetheus, des nachdenklichen Bruders von Prometheus. Wer versuchen möchte, die überaus komplizierten und überdies fast durchweg umstrittenen Verwandtschaftsverhältnisse in der griechisch-römischen Götterwelt zu studieren, dem sei die Wikipedia-Seite »Stammbaum der griechischen Götter und Helden« empfohlen. Man findet dort eine minutiöse Ahnentafel, die aussieht wie der Schaltplan eines wahnsinnig gewordenen Elektro-Ingenieurs.
III. Was Ovid berichtet
Als sich das große Wasser zu verlaufen beginnt, gehen Deukalion und Pyrrha – wie Noah und seine Familie – auf einem hohen Berg an Land: Es ist der Parnassos, zweieinhalbtausend Meter hoch, heute ein Skigebiet in Mittelgriechenland, zwei Autostunden nördlich von Athen. In der Mythologie gilt der Parnassos als der Berg des schönen Künstlergottes Apoll, Wohnsitz der Musen, und also auch Ursprungsort des dichterischen Sprechens in Bildern. Ganz in der Nähe lag übrigens auch das Orakelheiligtum von Delphi. Ein frommer Ort, was gut passt, denn auch Deukalion und Pyrrha sind grundfromme und gute Menschen: als die Sintflut kam, gab es auf der ganzen Erde keinen Mann, der das Recht mehr geliebt hätte als Deukalion und keine Frau, die gottesfürchtiger gewesen wäre als Pyrrha. Folglich führt sie der erste Weg, den sie auf der erschreckend leeren und wüsten Erde gehen, in einen von der Flut halbzerstörten Tempel. Er ist Themis geweiht, der Göttin der Gerechtigkeit. Zu ihr sprechen Pyrrha und Deukalion ein Dankgebet und bitten um irgendeinen Hinweis, was sie nun tun sollen. »Geht weg vom Tempel, verhüllt euer Gesicht, legt eure Gürtel ab und werft die Gebeine Eurer Mutter, die euch geboren hat, hinter Euren Rücken!« Diese Antwort der Göttin erschrickt das fromme Paar. Die sterblichen Überreste ihrer Mütter auszugraben und wegzuwerfen, scheint ihnen sinnlos und vor allem frevelhaft. Andererseits war das der göttliche Befehl, den sie auch nicht in den Wind schlagen wollten. Und so wiederholten sie die Worte der Göttin immer wieder, bis Deukalion auf den Gedanken kam, Themis könne ihre Anweisung vielleicht nicht wörtlich gemeint haben, sondern als bildliche Rede. Dem stimmte Pyrrha zu und die beiden machten sich daran, den Rätselspruch weiter hin und her zu wenden und endlich kamen sie auf die richtige Bedeutung. Mit der Mutter war die Mutter Erde gemeint und die Knochen standen für Steine. Also sammelten sie Steine vom Boden, warfen sie hinter sich und binnen kurzer Zeit nahmen die Steine menschliche Gestalt an, die von Deukalion geworfenen wurden Männer, die von Pyrrha geworfenen Frauen. Und so, schließt Ovid die Geschichte von Deukalion und Pyrrha, »und so sind wir Menschen ein hartes, arbeitserfahrenes Geschlecht geworden, und zeigen Tag für Tag, aus welchem Ursprung wir kommen.«
IV. Quod erat demonstrandum
Dass es auch nach einer großen Katastrophe weitergehen kann, dass es sich lohnt, immer wieder neu anzufangen, ist eine der tröstlichen Lehren aus den Sintflutgeschichten der alten Völker. Eine weitere Erkenntnis ist die: Wenn jemand überlebt, dann sind es nicht die Supercleveren, es sind nicht die Unverschämten, die Rücksichtslosen, die Gemeinen. Es sind die Guten, die überleben. Die Gottesfürchtigen, die Bescheidenen, die Einfachen, die Verheirateten. Die Biederen. Die Nachdenklichen. Die Anständigen. Die vielleicht ein Hausboot haben, wo sogar Kinder und Schafe unterkommen. Oder wenigstens irgendeine Notkiste. Ganz entgegen dem Volksmund, oder besser gesagt, dem vulgären Teil des Volksmunds, der nicht müde wird zu betonen, dass Gutheit Dummhet ist. Ist sie eben nicht! q.e.d.