Alles wird anders – Zu Ovids Metamorphosen
Die Metamorphosen des Ovid sind ein berühmtes Buch. Und ein großes Buch sind sie auch. Eine seit der Renaissance immer wieder genutzte Schatztruhe der antiken Mythen. Ich lernte sie als Lateinschüler kennen und las später des öfteren darin. Fast genauso oft schlief ich bei der Lektüre ein, besonders in der zweiten Hälfte des Buchs. Tröstlich war für mich daher der Augenblick, als ich erfuhr, dass ein berühmter Altphilologe die Feststellung traf: Das Buch ist eindeutig zu lang. Hinzu kommt, dass Ovid selbst mit seinem Buch nicht zufrieden war. Er wollte es verbrennen, als er es fertig hatte. Nein, er wollte nicht nur, er verbrannte es tatsächlich in einem vermutlich theatralischen Autodafé – ließ aber, vielleicht, weil er seiner eigenen Unzufriedenheit nicht traute, eine Abschrift unzerstört. Es hat mich nun gereizt, das Buch noch einmal vorzunehmen, das Buch, in dem die Geschichte von Pyramus und Thisbe genauso enthalten ist wie die der Verwandlung des Zeus in einen weißen Stier, die Geschichte von Narziss, der sich in sein Spiegelbild verliebte und die von Daphne, die zum Lorbeerbaum wurde. Zur Selbstdisziplinierung habe ich beschlossen, eine Art Lesetagebuch anzulegen, in dem ich die mir am interessantesten erscheinenden Geschichten festhalten und mit dem, was mir dazu durch den Kopf geht, aufschreiben will. Im Laufe der nächsten Monate soll einiges davon hier zu lesen sein, in lockerer Folge. Beginnen will ich mit einigen Gedanken zum denkerischen Umfeld der Metamorphosen. Das scheint mir interessant zu sein. Ich denke, in den Diskussionen unserer Tagewird gern übersehen, dass es neben zahlenbasierten, experimentellen Verfahren zur Erkenntnisgewinnung auch das vielfach unterschätzte Verfahren der spielerischen Imagination gibt, also der Kunst.
Poesie der Dinge
Einige Vorbemerkungen zu Ovids Metamorphosen
Die »Metamorphosen« – zu Deutsch: »Verwandlungen« – des Ovid (43 vor Christus bis ca. 17 nach Christus) erzählen in fünfzehn Großkapiteln die Geschichte der Welt von ihrer Entstehung bis zur Regentschaft des Kaisers Augustus. Da man zu Ovids Zeiten nur ein sehr begrenztes Wissen über die Anfänge und ihre Verwandlungen in immer neue Vergangenheiten bis hin zur jeweiligen Gegenwart hatte, griff er nach Art der Dichter auf seine Imaginationskraft und auf die teils märchenhaften Erzählungen der ihm überlieferten Mythen und bruchstückhaft überlieferten Geschichten zurück. So mischte er das, was er wusste, mit dem, was er ahnte und dem, was er erfand, und verwandelte es in ein poetisches Werk, das seinerseits nun seit 2000 Jahren eine Realität eigener Art ist.
Diese poetische Art, Wissenslücken durch Imagination zu füllen, ist nicht so außergewöhnlich und unwissenschaftlich, wie man auf Anhieb denken könnte. Der Physiker Jean Baptiste Perrin (1870–1941, Nobelpreis 1926) erklärte den Vorgang des Aufstellens wissenschaftlicher Hypothesen so: »Es handelt sich um eine Art intuitiver Intelligenz. Wir erraten die Existenz oder die Nähe von Dingen, die noch jenseits unseres Wissens liegen. Wir versuchen die Komplexität des Sichtbaren durch das unsichtbare Einfache zu erklären.«
Raten und Imaginieren war auch die Methode der antiken Naturwissenschaften, die ihre Welterkenntnis noch nicht auf experimentelle Methoden stützen konnten. Man rätselte und riet, kam aber manchmal auf erstaunlich richtige Ideen. Eine davon war die atomistische Weltsicht. Sie geht auf das 5. Jahrhundert vor Christus (Leukipp, Demokrit) und wurde von Epikur (4./3. Jhdt vor Christus) weiterentwickelt. Man findet diese Lehre klassisch dargestellt in dem Epos »Über die Natur der Dinge« des römischen Schriftstellers Lukrez (ca. 100–55 vor Christus). Mit diesem Werk war Ovid bestens vertraut; gleich am Anfang der Metamorphosen ist der zentrale Begriff des atomistischen Denkens genannt »semina rerum« – »die Samen der Dinge«. Die Grundannahme der Atomisten lautet: Die Welt besteht im Letzten aus eigenschaftslosen kleinsten Teilchen, eben: »semina rerum«. Was wir an kompakter Komplexität mit den Sinnen wahrnehmen, Lebewesem, Natur, Himmel, Erde, Wasser, Feuer usw., ist das Ergebnis eines unendlichen Mischvorgangs, in dem die eigenschaftslosen Teilchen sich zu immer neuen Kombinationen zusammenfinden, die sich immer wieder in Teile trennen, auflösen, neu zusammenfügen und so durch Umformung entwickeln und schließlich – auch unter gestaltender Mitwirkung der Menschen, die ja selbst auch aus Atomen gemacht sind – zur Wirklichkeit werden, auch zur Wirklichkeit der Kunst – bis wieder neue Veränderungen eintreten. Ständige Veränderung ist das Grundprinzip von allem Stirb und Werde einschließlich der Kunst. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass so viele Kunstgalerien den Namen »Semina Rerum« tragen.
Der amerikanische Physik-Nobelpreisträger Richard Feyman (1918–1988) sagte:
»Wenn wir uns eine globale Katastrophe vorstellen, in der alles Wissen der Menschheit zerstört würde und es könnte nur ein einziger Satz gerettet werden, von dem wir möchten, dass er die größte Informationsdichte über die Welt hätte, so müsste dieser Satz meiner Meinung nach die Atomtheorie sein, nach der alle Dinge aus kleinsten Teilchen bestehen, die sich unablässig bewegen und die einander anziehen, wenn sie von einander entfernt sind und sich abstoßen, wenn sie einander nahe kommen.«
Bei allem Verwickelten, Wunderlichen, Märchenhaften, das Ovid dem Leser in den Metamorphosen zumutet: Mit seiner Grundidee liegt er bis heute richtig.