Allgegenwärtig – Die Odyssee (15.05.24)
Allein für die ersten beiden Maiwochen 2024 verzeichnen die Suchmaschinen des Internets jede Menge Kulturereignisse mit dem Titel »Odyssee«. Das reicht vom Spielfilm über Ballett und Liebhabertheater bis zur berühmten ZDF-Fernsehserie um den verwitweten Kunstrasenfabrikanten Weiser alias Joachim Król.
Dass Homers zweieinhalbtausend Jahre alte Geschichte von Odysseus nicht aufhört, das abendländische Denken und Dichten von der literarischen Hochakrobatik bis in die Laienkunst zu inspirieren, ist immer wieder erstaunlich. Es hat viele Gründe und hängt sicher auch mit der erzählerischen Raffinesse des Autors Homer zusammen. Ein Beispiel für Homers Erzähltechnik ist die Verknüpfung zweier Reisen: Der Heimfahrt des Odysseus – sie führte von Troja (gelegen an der heute türkischen Mittelmeerküste) westwärts übers Meer Richtung Ithaka – mit dem Aufbruch des Sohnes Telemach von Ithaka Richtung Südosten nach Pylos und Sparta, wo Telemach Nachrichten über das Schicksal seines Vaters einholen will.
Die räumlich gegenläufigen Reisen von Vater und Sohn geben der »Odyssee« zusätzliche Spannung. Sowohl der Vater als auch der Sohn geraten, während sie einander suchen, mehrfach in Lebensgefahr, ehe sie sich endlich in Ithaka wiedersehen und zum blutigen Kampf gegen die aggressiven Verehrer der Frau und Mutter Penelope zusammenfinden.
Die konträren Dynamiken der Reisen sind auch ein bewegtes Bild der komplexen seelischen Tiefenspannungen zwischen Sohn und Vater: Vergangenheit und Zukunft, Bewahrung und Aufbruch. Eine Konstellation, die nach literarischer Bearbeitung schreit: Kein Wunder also, dass es nicht nur viele literarische »Odysseen« gibt, sondern auch eine Reihe von »Telemachien«: Die bedeutendste von ihnen ist der 1699 erschienene Roman »Les Aventures de Télémaque« (»Die Abenteuer des Telemach«). Dessen Autor François Salginac de la Mothe Fénelon (1651–1715) machte aus der Vatersuche des Telemach einen sozialutopischen Jugendroman. Telemach lernt auf seiner Reise eine Welt kennen, die nicht mehr von Gier, Krieg und Hass regiert ist. In dem Land Bátika zum Beispiel ist Privateigentum durch Gütergemeinschaft ersetzt und Gewalt zwischen Menschen und gegen Tiere abgeschafft.
Doch nicht nur die in Homers »Odyssee« angesprochenen menschlichen Grundkonflikte sind zeitlos präsent. Auch einige der Orte, an denen Odysseus und Telemach unterwegs waren, gibt es bis heute. Zum Beispiel die Küstenstadt Pylos auf dem Peloponnes, in der Telemach – so steht es im 2. Gesang der »Odyssee« – dem steinalten Troja-Kämpfer Nestor begegnet, steht immer noch in Blüte. Und ein paar Kilometer landeinwärts von der Stadt kann man die Grundmauern eines Palastes aus dem 12. Jahrhundert vor Christus bewundern, der dem alten Nestor als Wohnsitz zugeschrieben wird. Von dort aus hat man einen fabelhaften Blick auf die Bucht von Pylos. Und zu dem Palast gehört eine steinerne Wanne, in der vielleicht auch Telemach badete, bevor er sich von Nestor verabschiedete.
Links:
Buchvorstellung in Kiel am 16. Mai 2024 in Kiel
https://literaturhaus-sh.de/programm/kalender.event.5944.html
In 60 Minuten durch die Odyssee – Podcast mit Hannah Deibel, Anastasios Iakovou, Jakob Schmitz und Christoph Schmitz-Scholemann
https://studio-literatur.podigee.io/46-new-episode