»Augenblick noch, Herr Henker«. Zweiter Teil (01.09.23)
Das wichtigste Werk des Philosophen Edgar Morin (* 1921) ist eine sechsbändige Arbeit über Wissenschaftsmethodologie. Das klingt langweilig, ist aber fundamental für den Wissenschaftsbetrieb und die von ihm produzierten Forschungsergebnisse: Deren weitgehend zahlenbasierte Rationalität ist derzeit die Grundlage nahezu allen wirtschaftlichen und politischen Handelns, während andere – etwa emotional gefärbte – Denkweisen in schlechtem Ruf stehen. Edgar Morin streitet in seinem Methoden-Werk nicht zuletzt gegen die Alleinherrschaft rationalistischen Denkens und Sprechens. In einem 1997 erschienenen programmatischen Essay über »Die Quellen der Poesie« schreibt er, zuallererst müsse man anerkennen, dass der Mensch, egal welchem Kulturkreis er angehöre, immer zwei Sprachen spreche: Nämlich einmal die rationale Sprache der Erfahrung, der Praxis, der Technik. Daneben gebe es aber noch eine andere Sprechweise.
»Die andere Sprache ist symbolisch, mythisch, magisch. Die erste Sprache versucht präzise zu sein, zu entziffern, zu definieren, sie stützt sich auf die Logik und will das, wovon sie spricht, objektivieren. Die zweite Sprache benutzt die Anspielung, die Nebenbedeutung, Analogie, Metapher, das heißt den ganzen Lichthof von Bedeutungen, der jedes Wort umgibt … und versucht die Wahrheit der Subjektivität (und des Mythos) auszudrücken. Diese beiden Sprachen können einander gegenüberstehen oder sich miteinander vermischen, sie können auch voneinander getrennt sein. … Den zwei Sprachen entsprechen zwei verschiedene Zustände. Der erste Zustand, den man prosaisch nennen könnte, ist der Zustand, in dem wir versuchen wahrzunehmen, nachzudenken, es ist der Zustand, der einen großen Teil unseres Alltagslebens ausmacht. Der zweite Zustand … ist der poetische Zustand, … den Fernando Pessoa als den einzig wahren inneren Zustand des Menschen bezeichnet hat. Ich glaube allerdings, dass beide Zustände wahr sind…«
In unserer westlichen Kultur sei die Poesie wie die gesamte humanistische Kultur aus allen relevanten Bereichen verbannt. Sie finde sich auf einen beschränkten Wirkungsraum verwiesen, auf die Freizeit, die Unterhaltung, auf schwärmerische junge Leute, Frauen, sie sei gewissermaßen ein für den prosaischen Ernst des Lebens unwichtiger, bestenfalls störender Teil. Zu beobachten sei dagegen eine ständige Ausbreitung der »Hyper-Prosa«, einer Form des monetarisierten, zeitmesserischen, zerteilenden, aufgliedernden, atomisierten Lebens, und nicht nur des Lebens, sondern auch eine Form des Denkens, in dem spezialisierte Experten für alle Probleme zuständig sind, und diese Invasion der Hyperprosa sei verbunden mit der Ausbreitung von Ökonomie, Technologie und Bürokratismus.
Hinter dieser Hyperprosa, sagt Morin, stehe eine moderne Version der inzwischen erledigten christlichen und sozialistischen Heilserwartungen, also der in Wahrheit irrationale Glaube, man könne das Leben zu allseitiger innerer und äußerer Zufriedenheit dauerhaft regulieren, wenn man nur die richtigen gesetzlichen, moralischen, technischen, medizinischen und publizistischen Maßnahmen ergreife. Diese Botschaft hält Morin schon deshalb für unrealistisch, weil unsere zeitmesserische mathematisierende Rationalität zwar ihren Nutzen habe, aber eben nur begrenzt tragfähig sei, und zwar nicht nur wegen der unberechenbaren und unvermeidlichen Anteile des Gefühls im Leben der Menschen. Der herrschende Glaube an die Verstehbarkeit und Regulierbarkeit unserer Existenz sei schlichtweg unrealistisch und wirke geradezu lächerlich angesichts der Erkenntnisse der Astrophysik: Danach sei die Grundlage unseres irdischen Lebens nichts weiter als eine Laune, die wir dem kosmischen Chaos zu verdanken haben, einer eher poetischen als geordneten Orgie an Feuer-Explosionen, die unserem irdischen Leben jederzeit und ohne rational fassbaren Grund ein Ende bereiten könnten.
»Wir sehen ein Universum entstehen, wahrscheinlich seit 15 Milliarden Jahren, aus einem Verbrennungsprozess, aus dem die Zeit quillt, das Licht, die Materie, so als wäre dieser Anfang eine Art desorganisierter Explosion. … Wir sind mitten in einem unglaublichen Abenteuer … Viele Astrophysiker ahnen, dass diese Welt der Trennung von Raum und Zeit wie der Schaum ist, der Schaum von etwas anderem, in dem die Trennungen von Raum und Zeit nicht mehr existieren. …«
Die Haltung Morins ist bei näherem Zusehen gar nicht so weit entfernt von der des griechischen Philosophen Heraklit, der eine ähnlich feurige und explosive Auffassung vom Urgrund des Lebens hegte. Edgar Morin zieht aus den ernüchternden Einsichten in die Grundlagen unsers Lebens aber keineswegs den Schluss, jetzt sei sowieso alles egal und man müsse sich um nichts mehr kümmern:
»Die Heilsreligionen und die Heilskonzepte der Politiker sagten: Seid Brüder, denn wir sind gerettet. Ich glaube, wir müssen heute sagen: Lasst uns Brüder sein, weil wir verloren sind, verloren auf einem kleinen Vorstadtplaneten einer Vorstadtsonne einer Randgalaxie einer Welt, die eines Zentrums beraubt ist. Wir sind hier, aber wir haben die Pflanzen, die Vögel, die Blumen, wir haben die Vielfalt des Lebens, wir haben die Möglichkeiten des menschlichen Geistes. Dies ist von nun an unsere einzige Grundlage und unsere einzige mögliche Quelle.«
Wir sollen uns das uns geschenkte Leben so gut wie möglich einrichten. Und zwar in geschwisterlicher Solidarität mit den übrigen Lebewesen auf dem »Vorstadtplaneten« Erde, der uns allen zusammen gehört. Und hier noch einige Passagen aus dem Essay »Augenblick noch, Herr Henker!«, der seinem jüngsten Buch den Titel gegeben hat und vom Staunen über die Schönheit des Lebens handelt:
»Augenblick noch, Herr Henker!
Staunen über das Leben: Nicht nur darüber, dass ich mit hundert Jahren immer noch am Leben bin, sondern ganz einfach, dass ich überhaupt lebendig bin im Herzen des Lebens, dessen sich zugleich mit mir der Vogel erfreut, der vor mir im Gras spazierengeht, auch der Olivenbaum da vorne, die Palmen etwas weiter hinten und die Tausenden von dünnen Grashalmen auf der Wiese, alles und jedes und mich inbegriffen: beschäftigt mit demselben Handwerk, nämlich: zu leben.
Wozu dieses Wuchern, diese Fortpflanzung, diese Kreativität, überall am Werk, bis ins kleinste Blatt, dieser Miniatur von einer Chlorophyllfabrik, die Sonnenenergie tankt …?
Zugleich erfasst mich eine friedvolle Freude, eine Art stilles Glück, wenn ich das pflanzliche Leben um mich herum betrachte. Wie es sich mittels seiner Geäste und Gezweige nährt mit Sonnenenergie, und sich mittels seiner Wurzeln mineralische Substanzen zuführt … Aber ich liebe auch das tierische Leben, die Eleganz der Katzen, die Majestät der Löwen, die Schnelligkeit der Gazellen. Die Insekten, die es auf mein Gesicht abgesehen haben, ärgern mich. Und ich bewundere die Fliege, dieses kleine Meisterwerk der Natur. Eine Zeitlang hatte ich selbst eine Fliege in meiner Wohnung, die mich jeden Morgen am Tisch zum Frühstück besuchte und mit der mich nach und nach ein fast familiäres Verhältnis verband. Ich hatte das Gefühl, dass sich zwischen uns beiden eine wechselseitige Zuneigung anbahnte …
Aber gerade weil ich diese Freude an der Fülle des Lebendigsein und am Genuss des Lebens spüre, macht es mich auch traurig, das Leben bald verlieren zu müssen … Die Welt wird ihre Abenteurreise fortsetzen, ohne dass man weiß, ob sie zur finalen Zerstörung verdammt ist oder zum ewigen Neuanfang, ob unsere Sonne erlischt und das irdische Leben endet. Aber bis dahin? Was wird bis dahin aus der Menschheit? …
Ich fürchte, es wird eine lange Phase des Rückschritts sein, auch wenn ich weiß, dass ein unwahrscheinliches Ereignis alles ändern kann, zum Besseren oder zum Schlechteren.
Ich werde in einem Augenblick historischer Hochspannung weggehen.«
Einer der am häufigsten übersehenen Vorzüge juristischer Tätigkeit ergibt sich aus der Allzuständigkeit des Rechts. Vor seinem zugegebenermaßen wackeligen Thron muss das ganze Leben mit allen seinen Aspekten bestehen: Von der Religion über die Kunst bis zur Informatik und Astronomie. Dem Recht ist nichts Menschliches fremd, natürliche Dummheit und künstliche Intelligenz inbegriffen. Es ist daher vielleicht kein Wunder, dass mit Edgar Morin einer der wenigen Universalgelehrten unserer Tage von Hause aus Jurist ist. Einen wichtigen Aspekt der genannten Vielfalt, nämlich das Theatralische des Rechts beleuchtet die 12. »Rendsburger Tagung« im Oktober 2023, u.a. mit Kathrin Röggla, Rainald Goetz u.v.a.m. Näheres hier.