»Augenblick noch, Herr Henker«. Erster Teil (15.08.23)
»Encore un moment, Monsieur le bourreau!« soll Madame du Barry am 8. Dezember 1793 zu ihrem Henker gesagt haben. Der schickte sich gerade an, die Madame auf dem Liegebrett der Guillotine festzuschnallen. Sie war äußerst verärgert. Alles, was man ihr vorwarf, war, dass sie dem 20 Jahre zuvor verstorbenen König Ludwig XV. als Mätresse gedient hatte. Der Henker war ebenfalls verstimmt, weil er es nicht mochte, wenn man ihm in sein tödliches Geschäft pfuschte. Er schimpfte, sie sprach noch dies und das, dann aber ließ er das unerbittliche Fallbeil niedersausen.
»Encore un moment …« heißt auch das neueste Buch des französischen Gelehrten Edgar Morin. Es versammelt philosophische und politische Essays und erschien Ende Juni 2023, wenige Tage vor dem 102. Geburtstag des in Montpellier lebenden Juristen und Universalforschers. Madame du Barry und ihr Henker spielen dabei eine eher metaphorische Rolle. Deutlich spürbar und auch thematisiert sind im Buch sowohl die vom Autor vermutete Nähe des eigenen Todes als auch die in Westeuropa derzeit grassierende moribunde Grundstimmung. Beidem tritt Edgar Morin auf seine eigene, zwischen leisem Spott und unverblümter Lebensfreude changierende Art entgegen.
Der erste Text des Buchs trägt den Titel »Centenaire«, was das französische Wort für einen Menschen ist, der mindestens hundert Jahre zählt.
»Centenaire
Wieso ich hundert geworden bin? Ich weiß es nicht. Ich kann es wirklich nicht sagen. Alles, was ich beisteuern kann, sind zwei Mutmaßungen und eine Gewissheit.
Ja, es stimmt, mit 90 habe ich tatsächlich begonnen, mich gesund zu ernähren. Abgesehen von gelegentlichen, aber notwendigen Exzessen habe ich seitdem, soweit möglich, Produkte aus biologischem Anbau bevorzugt. Ich habe mich am mediterranen Ernährungregime meiner Kindheit orientiert, mit Olivenöl als Grundlage. Die Nahrungsmittel der industrialisierten Agrikultur habe ich gemieden und meinen Alkoholkonsum auf ein Glas Rotwein pro Tag begrenzt (vorzugsweise Médoc, ohne freilich die jährliche Weinverkostung mit Beaujolais-Chermette im November auszulassen). Sport getrieben habe ich nie, wenn man von meinen radfahrerischen Aktivitäten bis zum 25. Lebensjahr absieht und von meiner lebenslangen Betätigung als Fußgänger.
Meine erste Hypothese betrifft das, was man heute Resilienz nennt, also eine gewisse Widerstandsfähigkeit. Als Foetus hielt ich allen Abtreibungsversuchen meiner Mutter stand. Sie litt an einer schweren Herzkrankheit, derentwegen man ihr vom Kinderkriegen dringend abgeraten hatte. Ich wurde trotzdem geboren, allerdings in einem mehr oder weniger strangulierten Zustand, verstrickt in die Nabelschnur. Es dauerte, wie mein Vater erzählte, eine halbe Ewigkeit, bis ich mich von den Ohrfeigen des Gynäkologen, der mich an den Füßen festhielt, zu meinem ersten Schrei bewegen ließ.
Im Alter von zehn Jahren, ich blieb das einzige Kind meiner Eltern, traf mich wie ein Blitzschlag der Tod meiner Mutter, die ich anbetete und die mich anbetete. In dem darauffolgenden Jahr litt ich an heftigem Fieber und einer rätselhaften Krankheit, die von den Ärzten mangels besserer Erkenntnis ›aphtöses Fieber‹ genannt wurde. Um meinem Kummer und Schmerz zu entkommen, habe ich mich damals in die Literatur geflüchtet, ins Kino, Konzerte, Ausstellungen. Ich wollte der Realität entfliehen – und habe durch die dabei gemachten Erfahrungen die Wirklichkeit entdeckt.«
Als zweiten möglichen Grund für sein hohes Lebensalter nennt Morin seine unersättliche und grenzenlose Neugier. Sie habe ihn seit seiner Kindheit nie verlassen. Als Student, Résistance-Kämpfer und später als Wissenschaftler habe er keinen anderen Ehrgeiz gehabt als seine jeweilige Arbeit. Sein Streben sei es bis heute, zur Erneuerung des Wissens und des Denkens beizutragen und die Ergebnisse seiner Forschungen zu verbreiten. Dabei versteht Morin Wissenschaft in einem sehr weiten Sinn. Neben den herkömmlichen Disziplinen von Philosophie, Recht, Medizin über Soziologie, Mathematik, Biologie, Technik, Architektur etc. sollen sich die Wissenschaftler auch mit der poetischen Seite des Menschen befassen, ihren Sinn öffnen für Musik, Traum, Tanz, Mystik, Schönheit, Mythos, Liebe und Freundschaft.
»Und schließlich, und das ist die einzige Gewissheit, die ich bieten kann, muss ich sagen, dass ich meine hundert Lenze deshalb erreicht habe, weil seit dem Jahr 2009 meine Freundin und Ehefrau Sabah die Jugendlichkeit meines Herzens gehegt und gepflegt und genährt hat. Sie hat mich ermutigt, meiner Mission treu zu beiben. Und nicht nur das: Vier Mal war ich durch Blutvergiftungen schon beinahe tot, vier Mal hat sie mich ins Leben zurückgerissen.
Die Wahrheit ist also, dass meine Resilienz allein niemals genügt hätte, um mich mein Alter erreichen zu lassen. Es brauchte immer jemand anderen, vom Gynäkologen bis zu Sabah, und viele andere geliebte Menschen.
Rita Levi-Montalcini, Nobelpreisträgerin für Medizin (sie selbst wurde 103 Jahre alt) schrieb dies: »Gib jedem Deiner Tage Leben ─ anstatt Deinem Leben Tage hinzuzufügen.” Ich habe versucht, meine Tage mit Leben zu füllen. Das hat mich nicht daran gehindert, meinem Leben eine Menge Tage zu schenken.«
Einige Daten zum Lebenslauf von Edgar Morin: Seine Eltern waren sephardische Juden, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Thessaloniki nach Paris auswanderten. Der Vater hatte dort ein Geschäft für Herrenmode. Das Drama seiner Geburt 1921 und der frühe Tod seiner Mutter haben Edgar Morin ein Leben lang beschäftigt, auch die Ermordung seines Onkels durch die Nazis. Seinen ursprünglichen Nachnamen »Nahoum« legte er ab, als er sich während des Studiums der Résistance und der Kommunistischen Partei anschloss. Ab 1945 arbeitete er in Deutschland als Verwaltungsbeamter der französischen Besatzung und wandte sich vom Kommunismus stalinistischer Prägung ab. Studiert hat er Jura, Geschichte und Geographie, er schrieb in den 50er Jahren Drehbücher für Spielfilme, kritiserte die französische Algerien-Politik, befasste sich mit Poesie, Astro-Physik, Biologie, Soziologie und vielem anderen, setzte sich nach einem Forschungsaufenthalt in Kalifornien für weltweiten Umweltschutz ein und für eine planetarische Solidarität, schrieb unendlich viele Bücher, u.a. mit Stéphane Hessel und Peter Sloterdijk. Er war mehrere Jahrzehnte Forschungsdirektor des Centre National de la Recherche Scientifique (CNRS), das man mit der deutschen Max-Planck-Gesellschaft vergleichen könnte.
Fortsetzung folgt.
Einer der am häufigsten übersehenen Vorzüge juristischer Tätigkeit ergibt sich aus der Allzuständigkeit des Rechts. Vor seinem zugegebenermaßen wackeligen Thron muss das ganze Leben mit allen seinen Aspekten bestehen: Von der Religion über die Kunst bis zur Informatik und Astronomie. Dem Recht ist nichts Menschliches fremd, natürliche Dummheit und künstliche Intelligenz inbegriffen. Es ist daher vielleicht kein Wunder, dass mit Edgar Morin einer der wenigen Universalgelehrten unserer Tage von Hause aus Jurist ist. Einen wichtigen Aspekt der genannten Vielfalt, nämlich das Theatralische des Rechts beleuchtet die 12. »Rendsburger Tagung« im Oktober 2023, u.a. mit Kathrin Röggla, Rainald Goetz u.v.a.m. Näheres hier.