Die Cervantes-Methode.
Wie man sich gegen geistigen Diebstahl wehren kann (01.10.20)
1. Geistiger Diebstahl aus eigener Erfahrung
Ich weiß nicht, ob Sie ahnen, wie weh es tun kann, intellektuell bestohlen zu werden. Offen gesagt: Ich gehöre nicht zu dem auserlesenen Kreis der Opfer von Verletzungen meines geistigen Eigentums. Vielleicht geht es Ihnen so ähnlich wie mir: Man hat mir manches gestohlen in meinem bisherigen Leben, z. B. einen Füller, einen Zehnmarkschein und einmal einen Ring und eine Haarbürste und sehr viel Zeit. An all dem war nichts besonderes, außer dass ich die Bürste von meinem Vater geerbt hatte. Ich gebe zu, das ist nicht viel und ich bin auch nicht ganz sicher, ob ich diese Gegenstände nicht viel eher verloren habe als dass sie mir gestohlen wurden. Aber Verluste sind es eben doch, so dass ich weiß, was ungewollter Abgang von Hab und Gut für mich persönlich bedeutet: Er hinterlässt, jenseits des materiellen Schadens, ein eigentümliches Missbehagen, als sei man von einer unbekannten kalten Hand aus dem Dunkeln angefasst worden. Ob das bei Gedankendiebstahl ähnlich ist – ich weiß es nicht. Man hat mir noch keinen entwendet. Ich will mich damit nicht brüsten. Im Gegenteil: Es ist sehr ernüchternd, wenn man feststellen muss, dass man nach 50 Jahren Geistesarbeit noch nie einen Halbsatz hervorgebracht hat, der des Diebstahls wert befunden worden wäre. Aber einen Trost gibt es: Es könnte ja noch passieren. Für mein Selbstbewusstsein wäre das eine späte, aber doch schöne Erfrischung, denke ich mir. Und male mir aus, was ich dagegen unternähme.
2. Was tun, wenn man beklaut wird?
Der Gedankendiebstahl hat eine Besonderheit gegenüber dem Sachdiebstahl. Der Gedanke verschwindet nicht aus meinem Gehirn wie ein Stück Butter aus dem Eisschrank verschwindet, wenn es mir geklaut wird. Auch wenn es sich um einen materialisierten Gedanken handelt, der in einem Buch vor sich hin dämmert, bleibt er doch in eben dem Zustand, in dem er vorher war, bekleidet mit eben den Buchstaben, gedruckt auf eben jenes Papier. Nichts geht verloren. Im Gegenteil, es kommt etwas hinzu. Der Gedanke erscheint an einem weiteren Ort. In einem anderen Kopf, in einem anderen Buch, in einem anderen Film. Ein Gedanke kann nicht weggenommen werden, indem ein anderer Mensch ihn benutzt. Jedenfalls nicht, so lange ich ihn denken kann. Was bedeutet das für den Fall des Diebstahls? Es erschwert den Nachweis. Denn wie soll ich beweisen, dass etwas, das überall sein kann oder genauer gesagt: in beliebig vielen Exemplaren existieren kann und das, wenn es mir entfremdet wird, doch auch in meinem Besitz bleibt? Es trägt ja, wenn es sich woanders aufhält, keine sichtbare Spur meines Eigentums an sich, wie zB ein Bild eine Signatur an sich trägt. Auch der Diebstahl selbst hinterlässt kaum Spuren. Das bedeutet: Der Beweis, dass der Gedanke mir gehört, ist sehr schwer zu führen und muss deshalb als erstes gesichert werden. Von den Schwierigkeiten, die das mit sich bringt, will ich jetzt nicht sprechen. Aber angenommen, ich hätte sie überwunden. Angenommen, ein Schriftsteller Miguel de Cervantes hat, was ja auch tatsächlich geschehen ist, ein Buch geschrieben, einen Roman aus der Ich-Perspektive eines dünnen Mannes, dem das Bücherlesen den Kopf durcheinandergebracht hat, und der deshalb mit einem dicken Mann, der es auch ohne Bücherlesen im Denken nicht viel weiter gebracht hat, auf Abenteuer ausgeht. Angenommen weiter: Nachdem das Buch erschienen ist und großen Erfolg hatte, kam ein anderer Schriftsteller auf den Gedanken, sich die Lage zu nutze zu machen, indem er nun seinerseits ein Buch mit denselben Hauptpersonen, nämlich Don Quijote und Sancho Pansa schrieb. Was hätte Miguel de Cervantes in einem solchen Fall tun sollen? Der Fall liegt klar und ich stelle mir vor, Cervantes würde zu einem Anwalt gehen und die Klage hätte sicherlich Erfolg. Das Buch des anderen würde wohl eingestampft, der Gewinn, der aus dem bis dahin stattgefundenen Verkauf entstanden wäre, würde zu einem guten Teil auf dem Konto von Cervantes landen. Das wäre ungefähr das, was heute in einem solchen Fall geschähe. Außerdem würden natürlich die Feuilletons über den Fall schreiben. Insgesamt kann man sagen, die Sache würde sich lohnen, und zwar allseits: Der Anwalt von Cervantes würde Geld verdienen, ebenso die Anwälte des Plagiators und des Verlegers des Plagiators, ferner würden die die Feuilletonisten, die darüber schrieben, etwas davon haben und letztlich käme auch der Plagiator zu einem gewissen Ruhm und zu einem gewissen Geld, denn unter Garantie fände sich eine Illustrierte, die die Geschichte seines Gedankenraubs drucken würde.
Kurz gesagt: Wenn so etwas heute geschähe, würde aus der Verletzung des Urheberrechts an einem Roman – Geld.
3. Die Cervantes-Methode
Denken wir uns aber den gesetzlichen Schutz des geistigen Eigentums weg, was würde dann geschehen? Das ist eigentlich eine dumme Frage, denn natürlich kann nie jemand sagen, was geschähe, wenn das, was geschehen ist – hier die Einführung des Urheberrechts – nicht geschehen wäre. Aber in diesem Fall können wir die Frage doch beantworten: Denn zu Lebzeiten des Miguel de Cervantes war das geistige Eigentum nicht wesentlich geschützt und wie der Zufall es will, trug sich nach Erscheinen des ersten Teils der Geschichte vom ruhmreichen Ritter Don Quijote de la Mancha eben das, was wir uns gerade ausgemalt haben, zu:
Jemand, der nicht Cervantes war und dessen Namen wir hier nicht nennen, nutzte den Erfolg des Romans Don Quijote und schrieb einen zweiten Teil mit weiteren Abenteuern des von Cervantes erfundenen Don Quijote, in dem er versuchte, Cervantes nachzuahmen. Und dieser zweite Teil hatte Erfolg und Miguel de Cervantes las das Buch, fand es geistlos und scheußlich und da er sich mit rechtlichen Mitteln nicht wehren konnte, tat er es auf seine Art. Er schrieb nämlich selbst auch einen Zweiten Teil des Don Quijote, in dem er seinen – den echten – Don Quijote bei der Besichtigung einer Druckerei dem Drucker des Plagiats begegnen lässt.
»Er ging weiter und sah, daß man ein andres Buch korrigierte, worauf er nach dem Titel fragte und man ihm antwortete, es hieße: Der zweite Teil des scharfsinnigen Edlen Don Quixote von la Mancha, verfaßt von einem Einwohner von Tordesillas. ›Ich kenne dieses Buch schon‹, sagte Don Quixote, ›und in Wahrheit und bei meinem Gewissen, ich glaubte, es sei schon verbrannt und in Asche verwandelt, weil es durchaus unnütz ist; aber es wird schon sein Martinsfest finden, wie jegliches Schwein. …‹ Und mit diesen Worten und Zeichen eines heftigen Verdrusses verließ er die Druckerei.«
Etwas später in seinem Zweiten Teil lässt Certvantes den echten Don Quijote noch einem Mann begegnen, der sowohl ihn, den echten, als auch den falschen Don Quijote (haben wir gerade vergessen, das beide D.Q.s Erfindungen sind?) kennt, schleppt ihn zum Richter und lässt ihn schwören, dass nur er der echte und wahre Don Quijote ist und nur sein Knappe der echte Sancho Pansa. Und der Richter des Ortes stellt eine rechtsgültige, mit allen Förmlichkeiten versehene Erklärung aus, dass nur der echte Don Quijote der echte Don Quijote ist, »worüber der echte Don Quijote und der echte Sancho sich sehr freuten, als wenn ihnen eine solche Erklärung notwendig wäre und nicht die gänzliche Verschiedenheit der beiden Don Quijotes und beiden Sanchos durch ihre Taten und Worte hinlänglich deutlich würde.«
Und als bald darauf das Lebenslicht des edlen Ritters von der Mancha zu verlöschen beginnt, ist er geistesgegenwärtig genug, in sein Testament folgende weitsichtige Anweisung an die Testamentsvollstrecker einrücken zu lassen:
»›Item, so bitte ich … meine Vollstrecker, daß, wenn sie zufälligerweise den Autor kennenlernen, welcher eine Geschichte verfaßt haben soll, die unter dem Titel herausgekommen ist: Zweiter Teil der Taten des Don Quijote von la Mancha, sie ihn meinerseits, so herzlich sie nur können, um Vergebung bitten sollen, daß ich, ohne es zu wollen, ihm Gelegenheit gegeben, so viele und so große Albernheiten zu schreiben, wie er getan hat, denn ich scheide mit dem Vorwurfe aus diesem Leben, die Ursache gewesen zu sein, daß er sie geschrieben hat.‹«
Der echte Don Quijote erweist sich also als wahrhaft edler Charakter, der sich bei seinem Plagiator dafür entschuldigt, ihm eine so schlechte Vorlage geliefert zu haben.
»Hiermit beschloß er sein Testament und wurde ohnmächtig, so daß er im Bette der Länge nach ausgestreckt lag. Alle erschraken und suchten ihm zu helfen; aber in den drei Tagen, welche er noch lebte, seitdem er sein Testament gemacht hatte, befielen ihn diese Ohnmachten häufig. Das ganze Haus war in Verwirrung; aber dessenungeachtet aß die Nichte, die Haushälterin trank, und Sancho Pansa war munter, denn etwas zu erben vertilgt oder mäßigt doch im Gedächtnisse des Erben den Schmerz.«
4. Schlussbemerkung
Die Cervantes-Methode besteht also darin, aus der Verletzung des Urheberrechts an einem Roman – einen neuen Roman zu machen. Nicht, dass ich etwas gegen das Urheberrecht hätte. Ist ja auch eine Art Literatur. Aber die Cervantes-Methode ist auf jeden Fall eine nachhaltige und in jeder Hinsicht zuckersüße Rache.