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Danke, Hal Sirowitz (15.12.19)

Es muss um das Jahr 1998 gewesen sein, als ich Hal Sirowitz (geb. 1949) kennen lernte. Genauer gesagt nicht ihn selbst, sondern seine Gedichte. Noch genauer gesagt, nicht alle seine Gedichte, sondern, nach und nach, die 125 davon, die in dem Band »Mother said« (New York 1996) abgedruckt sind.

An den Ort der Begegnung kann ich mich noch gut erinnern: Es war in einer Kneipe namens »Schnabelewopski«. Sie lag mitten in der Partymeile der Düsseldorfer Altstadt, Bolkerstraße 53, Heinrich Heines Geburtshaus. Der Name der Kneipe leitete sich, wie der Kundige ahnt, von Heines Roman »Die Memoiren des Herrn von Schnabelewopski« ab.

Es waren literarische Launen, die mich in den 90er Jahren in diese Kneipe trieben. Es gab in Düsseldorf, wo ich damals arbeitete, einen amerikanischen Dichter namens John Linthicum (1948–2008). Er veranstaltete im »Schnabelewopski« das sogenannte »Poetry-Café«: Einmal monatlich gab es dort Lyrik zu hören. Sowohl arrivierte Dichterinnen und Dichter kamen zu Wort als auch viele damals unbekannte junge.

Ich ging sehr gern dorthin, weil mich die literarische, gut durchräucherte und schon dadurch lyrische Atmosphäre faszinierte: Sie zog mich an, weil ich selber ebenfalls Gedichte schrieb. Sie stieß mich allerdings auch ab. Als knapp 50 Jahre alter hauptberuflicher Richter war ich eigentlich zu alt und zu arriviert für die mehr studentisch geprägte Gruppe, die sich um John Linthicum scharte; ihre überwiegend depressiven und hermetischen Texte verstand ich kaum. Soweit ich mich nach dem Sinn der Verse zu erkundigen versuchte, liefen die verbalen und nonverbalen Antworten der jungen Lyriker darauf hinaus, dass schon die Sinnfrage meine Dummheit offenbarte. Trotzdem ging ich immer wieder hin, rauchte nach Kräften mit und las gelegentlich auch selbst etwas vor. So erarbeitete ich mir mit der Zeit den ehrenwerten Status eines mehr oder weniger komischen Alten.

Es gab eine Reihe von Regeln für die Lese-Auftritte, die der spindeldürre John Linthicum, das schmale, graubehaarte Haupt oftmals mit einem schwarzen Zylinder gekrönt, mit Humor und Strenge überwachte. Die wichtigste Regel war, dass jeder, der eigene Gedichte las, auch einen fremden Autor seiner Wahl empfehlen musste. Und eines Abends las eine ätherisch blasse Studentin drei oder vier Gedichte aus »Mother said« von Hal Sirowitz vor. Ich war sehr begeistert, stellte mich aber beim anschließenden Versuch, mir das in Deutschland damals nicht erhältliche Buch zu besorgen, ziemlich blöd an. Es dauerte in diesen voramazonischen Zeiten jedenfalls mehrere Monate, wenn nicht gar über ein Jahr, bis ich das 1996 in New York erschienene Werk aus den USA geliefert bekam.

In den auf knapp 130 Seiten versammelten Gedichten von »Mother said« geht es meist um Situationen, wie sie zwischen einem heranwachsenden Jungen und seinen Eltern alltäglich sind – kleine familiäre Erzählgedichte, in denen Sirowitz vor allem seine zugleich liebevollen und auf manchmal komische Weise überforderten Eltern porträtiert. Wir hören Erziehungstiraden, mal sarkastisch, mal tiefgründig, mal unfreiwillig lächerlich, wie sie vermutlich jeder aus seiner Kindheit noch im Kopf hat und wie er sie dann später, ohne es zu merken, nahezu ungebraucht an seine eigenen Kinder weiter gibt. Die elterlichen Erziehungsansprachen, die Hal Sirowitz uns vorstellt, stecken – ganz wie das Leben selbst – voller gelegentlich skurriler Alltagsphilosophien und scheinrationaler Lebensweisheiten, durch deren kleine Risse und Brüche die Abgründe von Angst und Ohnmacht sichtbar werden, die das Erbteil jeder Erziehung, ja jeder menschlichen Existenz ausmachen. Im Hintergrund der Lakonie und Komik der Sirowitz-Texte schimmert, darin Heinrich Heines Gedichten gar nicht so unähnlich, ein ganz leises, fast romantisches Gefühl von Tragik. Ich will als Beispiel hier ein neueres Gedicht von Hal Sirowitz bringen:

The Benefits of Ignorance

If ignorance is bliss, Father said,
shouldn’t you be looking blissful?
You should check to see if you have
the right kind of ignorance. If you’re
not getting the benefits that most people
get from acting stupid, then you should
go back to being what you always were –
being too smart for your own good.

die vorzüge der dummheit

wenn dummheit glücklich macht, sagte mein vater,
warum guckst du so unglücklich?
du solltest mal drüber nachdenken, ob du
die richtige art von dummheit erwischt hast. wenn du nicht
genauso erfolgreich bist wie jeder andere,
der sich blöd anstellt, dann solltest du wieder
so werden wie du sonst immer warst –
einfach zu genial für diese welt.

Für mich stand, sobald ich »Mother said« in der Hand hatte, außer Frage, dass ich die Gedichte von Sirowitz übersetzen und einen Verlag dafür suchen musste. Irgendwann im Jahre 2001 war ich mit dem Übersetzen fertig, war aber dumm genug, die Verlagssuche immer wieder zu verschieben, bis auch noch ein größerer Umzug dazwischen kam. 2003 hatte ich dann zur Kenntnis zu nehmen, dass mir jemand zuvorgekommen war. Eine deutsche Übersetzung war seit 2002 auf dem Markt. Also legte ich die Buchpläne zu den Akten. Ganz umsonst waren die Übersetzungen trotzdem nicht. Mir hatten sie Vergnügen bereitet. Und im Freundeskreis und auch bei Vorträgen habe ich immer wieder und jedesmal mit großem Erfolg aus den Gedichten zitiert.

Vor kurzem nun fiel mir meine deutsche Version von »Mother said« wieder in die Hand. Ich fand heraus, dass die 2002 erschienene Konkurrenz-Übersetzung nicht mehr greifbar ist und Hal Sirowitz bei dem Verlag auch nicht mehr als Autor genannt wird. Also suchte und fand ich die Mailadresse von Hal Sirowitz, schickte ihm meine Übersetzung und fragte, ob ich sie auf meine Webseite stellen dürfe. Er antwortete einen Tag später in einer kurzen Mail und sagte ganz einfach: Ja. Deshalb ist »Mother said« jetzt auf Deutsch in der Rubrik »Übersetzungen« zu finden. Die amerikanische Ausgabe kann man auf den einschlägigen Wegen weiter beziehen.

Tausend Dank, lieber Hal Sirowitz, für Ihre Gedichte und Ihre Großzügigkeit!

 

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