»Sometimes in error, never in doubt!« – Das Bundesverfassungsgericht und seine Befangenheiten (01.12.21)
Dass das Bundesverfassungsgericht am 30. November 2021 die Pandemiemaßnahmen des Bundes, insbesondere die »Bundesnotbremse« von April 2021, als verfassungsgemäß angesehen hat, ist keine große Überraschung. Ob die Entscheidung die Kritiker überzeugen kann, steht auf einem anderen Blatt. Denn dass auch für hohe und höchste Richter der Erfahrungssatz gilt, dass sie, je weniger Zweifel sie haben, umso öfter irren, bewahrheitet sich immer wieder. Drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit:
I. Der erste Fall
Es ist gerade mal ein paar Wochen her, da geriet das Bundesverfassungsgericht in einen üblen Verdacht. Die Richterinnen und Richter, so fanden manche, seien befangen. Die AfD-Fraktion im Bundestag hatte gegen die Bundeskanzlerin geklagt, weil sie, so die AfD, ihre Kompetenzen überschritten habe, als sie 2020 von Südafrika aus forderte, die Wahl des Weimarer Friseur-Unternehmers Kemmerich zum Ministerpräsidenten von Thüringen rückgängig zu machen. Das Bundesverfassungsgericht beraumte Termin zur Verhandlung in Karlsruhe an für den 21. Juli 2021. Dann wurde bekannt, dass sich am 30. Juni 2021 einige Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts mit der Kanzlerin auf deren Einladung zu einem »Erfahrungs- und Gedankenaustausch« in Berlin treffen würden. Ein kleiner exklusiver Plausch des Gerichts mit einem Prozessbeteiligten in einem – formulieren wir es einmal vorsichtig – brenzligen Verfahren? Ein Schelm, der Böses dabei denkt? Die AfD, die natürlich nicht eingeladen war, vermutete nichts Gutes und lehnte die Richter als »befangen« ab. Geht sowas überhaupt?
1. Die Rechtslage
Ja, sowas geht. In § 19 der Prozessordnung für das Bundesverfassungsgericht heißt es, fast genauso wie in den Prozessordnungen für die »normalen« Gerichte:
»(1) Wird ein Richter des Bundesverfassungsgerichts wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt, so entscheidet das Gericht unter Ausschluß des Abgelehnten …
(2) Die Ablehnung ist zu begründen. Der Abgelehnte hat sich dazu zu äußern. …«
Zwei Punkte sind hier bemerkenswert. Erstens kann ein Richter nicht nur dann abgelehnt werden, wenn er tatsächlich befangen ist; sondern es reicht bereits die »Besorgnis«, sprich: der »böse Schein« der Befangenheit. Wann so ein »böser Schein« besteht, ist gesetzlich nicht geregelt. Die Gerichte tappen hier deshalb ein bißchen im Nebel, weil der Gesetzeswortlaut insoweit Spielraum lässt. Solche Spielräume sind immer dann unvermeidlich, wenn es um vielschichtige Sachverhalte geht, deren Beurteilung Fingerspitzengefühl verlangt und sich nicht allein durch logische Operationen gewinnen lässt.
Für die »Besorgnis der Befangenheit« – da ist man sich unter Juristen immerhin einig – reichen bloße, nicht weiter begründete Aversionen oder Verdächtigungen gegen Richter nicht aus. Es müssen vielmehr irgendwie greifbare Umstände sein, die – aus der Sicht dessen, der eine Sache vor dem Richter hat – Misstrauen wecken können. Es reicht also mit Sicherheit nicht, wenn ein Angeklagter, der Vegetarier ist, behauptet, er habe einen der Richter beim Schnitzelessen gesehen. Aber wenn ich meinen Vermieter verklage und stelle fest, dass die Richterin ein paar Tage vor dem Prozess bei dessen Anwalt zum Abendessen eingeladen war? Hat das nicht wenigstens einen gewissen Beigeschmack?
2. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Juli 2021 (2 BvE 4/20, 2 BvE 5/20)
Das Bundesverfassungsgericht hat den Ablehnungsantrag der AfD als unzulässig zurückgewiesen. Die Entscheidung – nachzulesen auf der Webseite des Gerichts – hat schon rein äußerlich ihre Besonderheiten.
Eigentümlich ist zunächst, dass die Richter, gegen die das Ablehnungsgesuch gerichtet war, selbst über ihre Befangenheit entschieden haben. Dies ist nicht nur im Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausdrücklich anders geregelt, sondern widerspricht auch der schon den alten Römern bekannten Rechtsregel, dass niemand in eigener Sache Richter sein sollte: Ne in sua causa quis iudicet (Codex Theodosianus 2.2.0). Zudem hatte sich – ebenfalls abweichend vom Gesetz – keiner der abgelehnten Richter zuvor zu dem Befangenheitsantrag geäußert.
Zu solch ungewöhnlichem, eigentlich gesetzeswidrigem Vorgehen sehen sich »normale« Gerichte nur sehr selten berechtigt, z. B. wenn die Gründe für ein Ablehnungsgesuch offenkundig »an den Haaren herbeigezogen« sind und erkennbar ausschließlich der Prozessverzögerung dienen. Lag ein solcher Grund hier vor? Wohl kaum: Das Bundesverfassungsgericht hält seine Abweichung vom gesetzlich vorgeschriebenen Verfahren dennoch für gerechtfertigt, weil die Ablehnungsgründe (Treffen von mit der Sache befassten Richtern mit der »beklagten« Kanzlerin zum Abendessen kurz vor der Sitzung) von vornherein »gänzlich ungeeignet« seien. Und zwar deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht – unjuristisch gesprochen – über solcherlei Verdacht in diesem Fall gewissermaßen von Amts wegen erhaben sei. Denn das Gericht sei, ebenso wie die Regierung, ein »Staatsorgan«, und Staatsorgane müssten einander deshalb auch einen »Interorganrespekt« erweisen, zumal sie schon von Verfassungs wegen miteinander »verschränkt« seien. Diese respektvolle Verschränkung der Staatsorgane, so sieht es das Bundesverfassungsgericht offenbar, fordere, dass sich die organtragenden Richter hin und wieder zum Essen einladen (lassen) und dabei »Gedanken« und »Erfahrungen« mit einem anderen Organ (hier der Kanzlerin) austauschen. Es sei nachgerade ungehörig, solche staatstragenden zeremoniellen Tausch-Akte in ein schlechtes Licht zu rücken. Wer das tue, habe einfach nicht verstanden, dass bei Verfassungsrichtern als Staatsorganträgern grundsätzlich immer von unbefangener Amtsführung auszugehen sei, ganz nach dem Motto: »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Sie Wicht, Sie wissen wohl nicht, mit wem Sie’s hier zu tun haben!« – Ein klassisches Autoritätsargument. Ist das überzeugend?
3. So what?
Ich glaube nicht. Die Entscheidung ist ganz einfach unfair. Sie lässt sich juristisch allenfalls deshalb vertreten, weil das Bundesverfassungsgericht als letzte Instanz strukturell immer im Recht ist, ganz egal, was im Gesetz steht: Niemand hat das Recht, auch nur die Absicht zu hegen, das Gericht zu korrigieren, wenn es einmal gesprochen hat.
Trotzdem haben – wir leben in respektlosen Zeiten – viele bei der Entscheidung ein Störgefühl. Nehmen wir den schon erwähnten Fall eines Miet-Prozesses, in dem sich herausstellt, dass die zuständige Richterin mit dem Anwalt des Vermieters nicht nur allgemein ziemlich gut bekannt ist, sie geht auch mit ihm ein paar Tage vor der Sitzung essen oder lässt sich zum Kaminabend (Gedankenaustausch zwischen zwei Organen der Rechtspflege) einladen. Darf mich das nicht stören? Ist mein Störgefühl an den Haaren herbeigezogen oder gar »gänzlich ungeeignet«? Vielleicht haben sich die beiden beim Essen gar nicht über meinen Fall unterhalten, aber weiß ich das? Der entscheidende Punkt ist ja, dass ich es im Zweifel nie erfahre, weil ich nicht dabei war! Das ist exakt die Situation, in der der »böse Schein« entsteht. Für einen fairen Prozess ist es aber fundamental, dass ich sicher sein kann, genauso gehört zu werden wie mein Gegner.
Und außerdem: Kann man sicher sein, dass bei Urteilen untergründig nicht auch Sympathien eine Rolle spielen, z. B. weil die Essenseinladung sehr großzügig war? Gerade dann, wenn der Fall ein bisschen auf der Kippe steht, gesetzlich nicht klar geregelt ist und deshalb alles vom »Ermessen« des Gerichts abhängt? Wäre das nicht menschlich? Und wer glaubt ernsthaft, dass die Staatsorganträgerschaft vor solchen menschlichen Regungen schützt?
Ich glaube, das tut sie nicht. Ich fürchte, es ist sogar umgekehrt: Gerade das Bewusstsein, ein Staatsorganträger zu sein, scheint den Verfassungsrichtern den realistischen Blick auf ihre eigene constitution humaine vernebelt zu haben. Denn dass jemand ein staatliches Amt ausübt, ändert nichts daran, dass er menschliche Schwächen haben kann. Man kann also nicht sagen: Ich bin Staatsorgan und schon deshalb immer unvoreingenommen. Wäre das der Fall, bräuchte man keine Vorschriften über Befangenheit: Denn Befangenheit heißt ja gerade, dass jemand aus menschlicher Schwäche den Anforderungen seines Amtes – vielleicht – nicht genügt. Und deshalb zum Beispiel den, dem er persönlich näher ist, – vielleicht – besser oder schlechter behandelt. Der Zwiespalt zwischen dem Amt und der eigenen Person ist das eigentliche Thema bei Fragen der Befangenheit. Dieser Zwiespalt ist mit Autoritätsargumenten nicht aufzulösen, sondern nur mit einem offenen und beweglichen Nachdenken über die eigene Rolle und die berechtigten Erwartungen der Prozessteilnehmer und der Öffentlichkeit. Es braucht Fingerspitzengefühl. Oder einen Grundkurs in richterlicher Ethik. So etwas gibt es, wie wir sogleich sehen werden.
4. Richterliche Ethik
Im Jahr 2011 veröffentlichte das wahrscheinlich älteste noch bestehende juristische Periodikum, die seit dem Jahre 1750 (!) erscheinenden »Schleswig-Holsteinischen Anzeigen«, ein umfangreiches Sonderheft mit dem Titel »Richterliche Ethik«. Darin sind viele der nicht in hartes Recht gefassten, aber dennoch wichtigen Eigenschaften der »guten Richterin und des guten Richters« beschrieben. Unter II. 3 der »Säulen richterlichen Handelns« findet sich folgendes:
»Auftreten in der Öffentlichkeit
Einladung zum Abendessen o. ä. von etwaigen Prozessbeteiligten (Rechtsanwälte, Parteien, Politiker, Sachverständige)
– Ist die Einladung möglicherweise beruflich motiviert?
– Warum erhalte ich dieses Angebot?
– Sind damit möglicherweise bestimmte Erwartungen im Hinblick auf mein richterliches Verhalten verbunden?
– Könnte durch die Annahme der Einladung für einen unbeteiligten Dritten der Eindruck entstehen, dass ich diesen Prozessbeteiligten bevorzuge?
– Welchen Eindruck erweckt es, wenn ich beispielsweise die Einladung eines Rechtsanwalts zu einem Kaminabend, die an alle Zivilrichter des Bezirks – nicht an die in diesem Bereich tätigen Rechtsanwälte – gerichtet ist, annehme?
[…]
Hinterfrage ich, wie ich auf die Bürgerinnen und Bürger wirke? Welche Rückschlüsse ziehe ich daraus? Welches Bild der Justiz vermittle ich?«
Warum sollten diese Gesichtspunkte für Verfassungsrichterinnen nicht auch gelten?
II. Zwei weitere Beschlüsse
Nicht nur bei diesem Befangenheitsantrag hat sich in den letzten Jahren gezeigt, dass es im höchsten deutschen Gericht an zentralen Tugenden richterlichen Handelns – nun ja – fehlt. Zwei weitere Beispiele will ich nennen.
1. Der Beschluss vom 12. Oktober 2021 (1 BvR 781/21)
Auch in diesem Beschluss ging es um das ominöse Treffen der Bundeskanzlerin (die, wie man hört, Duzfreundin des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts ist) und einiger Minister(innen) mit Richter(inne)n des Bundesverfassungsgerichts vom 30. Juni 2021. Wieder war ein Befangenheitsantrag gestellt worden, diesmal nur gegen den Präsidenten des Gerichts und eine Richterin. Das Verfahren betraf die (am 30. November erwartungsgemäß zurückgewiesene) Verfassungsbeschwerde von drei AfD-Abgeordneten des Bundestages gegen Vorschriften im Infektionsschutzgesetz. Die Abgeordneten fanden, angesichts unsicherer Tatsachenlage dürften Grundrechte nicht in dem durch das Gesetz geschehenen Maße eingeschränkt werden. Es hatte sich indes herausgestellt, dass bei dem besagten Treffen – auf ausdrücklichen Wunsch des Präsidenten – Vorträge einer Ministerin und einer Richterin des Bundesverfassungsgerichts zum Thema »Entscheidungen unter Unsicherheiten« gehalten worden waren. »Nachtigall, ick hör Dir trapsen« werden sich die drei AfD-Abgeordneten gesagt haben, das ist doch genau unser Thema! Und wir werden nicht mündlich angehört, die Gegenseite aber wohl?
Das Bundesverfassungsgericht wies auch diesen Befangenheitsantrag zurück. Begründung diesmal: Abgesehen vom »Interorganrespekt«, der den schon erwähnten Organaustausch erfordere, und der grundsätzlich immer gegebenen Unvoreingenommenheit der Verfassungsrichter handele es sich bei dem Thema »Entscheidungen unter Unsicherheiten« um ein so allgemein gefasstes Problem, dass keinerlei Zusammenhang mit der Entscheidung zum Infektionsschutzgesetz erkennbar sei.
Was soll man dazu sagen? Natürlich ist »Entscheidungen unter Unsicherheiten« eine allgemein gehaltene Formulierung eines häufig auftauchenden Problems. Aber tatsächlich ist sie zugleich der verfassungsrechtliche Kern der gesamten Pandemie-Gesetzgebung: Wie weit darf oder muss der Gesetzgeber grundrechtlich garantierte Freiheiten einschränken, obwohl oder weil er auf unsicherer Tatsachengrundlage agiert? Wenn das Gericht ausgerechnet dieses Thema auf die Tagesordnung eines exklusiven Treffens mit einer der Prozessparteien setzt – und zwar in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Verfahren –, muss dann nicht die andere Seite misstrauisch werden dürfen? Im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht finde ich: Das liegt auf der flachen Hand.
2. Der Beschluss vom 23. Oktober 2020 (1274-691/20)
Im Jahr 2020 kam ans Tageslicht, dass das BVerfG einen kleinen Kreis von Journalistinnen und Journalisten (die zumeist für die sog. »Leitmedien« – SZ, FAZ, ARD, ZDF etc. – tätig sind) vorab exklusiv über Urteile und Beschlüsse informiert. Journalisten, die nicht diesem in einem Verein organisierten Kreis angehören, werden erst später unterrichtet, gleichzeitig mit den Parteien und der allgemeinen Öffentlichkeit. Diese Ungleichbehandlung sei, so das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 23. Oktober 2020 (1274-691/20), sachlich gerechtfertigt, weil es sich bei den bevorzugten Journalisten um einen »überschaubaren Kreis besonders fachkundiger und vertrauenswürdiger Journalisten« handele, mit denen das Gericht nicht näher erläuterte »vielfältige Berührungspunkte« (!) habe. (Nur) so könne gewährleistet werden, dass der Inhalt der schwer verständlichen – »komplexen« – Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts der Öffentlichkeit »zutreffend und vollständig« nahegebracht werden.
Das Gericht nimmt also für sich in Anspruch, darüber zu befinden, welche Journalisten bevorzugt behandelt werden. Sie müssen vertrauenswürdig sein, ferner sachkundig, und man muss »vielfältige Berührungspunkte« (Abendessen? Weinkneipe?) mit ihnen haben. Nur Journalisten mit diesen Qualifikationen, sind in der Lage, dem Volk richtig zu erklären, was das Gericht denkt. Ein hübsches Geschäft für Journalisten und Richter: Die einen haben einen unschätzbaren Informationsvorsprung, die anderen verständnisvolle Gerichts-Interpreten. Das ist eine wunderbare Umschreibung des Prinzips, das wir aus dem Grundgesetz der im Rheinland bekannten Regierungsform des kölschen Klüngels kennen: »Mer kennt sisch, mer hilft sisch!«
III. Wo liegt der Fehler?
Alle diese Fehleinschätzungen des Bundesverfassungsgerichts sind rechtlich schwer zu greifen. Es gibt kein Gesetz, das sie ausdrücklich verböte, und, wir sagten es schon, selbst dann kann das Gericht im Zweifel trotzdem tun, was es will. Der Irrtum liegt nicht in einem nachweisbaren Verstoß gegen Denkgesetze oder die Logik. Es ist, wenn man so will, ein Irrtum oder ein Mangel des Rechtsgefühls. Man könnte auch sagen: Die Richter verwechseln sich selbst mit ihrem Amt. Deshalb sind sie ihrer selbst sicher. Sie zweifeln nicht. Sie glauben sich frei von amtsfernen Gefühlen. Das ist für Richter nicht gut. Es hindert die Erkenntnis, dass man irren kann. »Sometimes in error, never in doubt« – das könnte die Überschrift bilden für die drei Entscheidungen, die ich hier vorgestellt habe. Wenn ich mich nicht irre …