Das Harte unterliegt (01.04.22)
Eines meiner liebsten Bücher ist das »Tao-Te-King« (auch: Daodejing). Es wurde vermutlich vor bald 2500 Jahren geschrieben. Der Name des Autors ist mit »Lao-Tse« (auch: Laozi u. ä.) überliefert. In Deutschland kennt man es u. a. aus dem Gedicht: »Die Entstehung des Buches Tao-Te King auf dem Weg des Lao Tse in die Emigration« von Bert Brecht, der die Kernbotschaft des Buchs in den Versen festhält:
»Dass das weiche Wasser in Bewegung
mit der Zeit den mächtigen Stein besiegt.
Du verstehst: Das Harte unterliegt.«
Ebenfalls im Brecht-Gedicht kann man nachlesen, dass das »Tao-Te-King« aus 81 Sprüchen besteht. Jeder Spruch hat nur wenige Zeilen, die in der deutschen Übersetzung meist bequem auf eine Druckseite passen. Es ist also ein ziemlich kurzer Text. Allerdings mit einem so faszinierenden Inhalt, dass es eines der meistübersetzten Bücher weltweit ist.
»Tao-Te-King« heißt soviel wie »Das heilige Buch vom Weg und von der Tugend«. Ein Ratgeberbuch also. Es wendet sich an jeden Menschen, vor allem aber auch an Herrscher. Es geht dabei nicht um Tricks, wie man sein Leben oder das Leben der Gesellschaft erfolgreich in den Griff bekommt und erwünschten Zielen zuführt, sondern um die Kunst des Innehaltens, der Besinnung auf den großen Fluss des Seins und seiner einfachsten Gesetze, auf Tugend, Güte, Friedfertigkeit.
Viele unserer westlichen Strategien der Krisenbewältigung – sei es im individuellen Leben, sei es im staatlich-politischen Zusammenhang – stehen in hartem Widerspruch zu dem, was Lao-Tse rät. Er hält nicht viel von Wettbewerb, Leistungsstreben, Ruhm, Verwaltungsaktivismus, Wissenschaftsgläubigkeit: »Füllet die Bäuche, leeret die Köpfe!«, sagt er an einer Stelle. Und rät zum Nicht-Tun, zum Vertrauen darauf, dass dem Lebensprinzip wie einem großen Fluss eine eigene, friedfertige Richtung innewohnt, die man nicht stören, sondern sorgfältig betrachten und wirken lassen sollte. Im Kapitel 68 heißt es mit Bezug auf den Krieg:
»Wer eine Armee befehligen kann, brennt nicht auf den Krieg … Wer zu siegen weiß, gewinnt, ohne sich an der Schlacht zu beteiligen.«
Kann man eine Schlacht gewinnen, ohne in sie einzugreifen? Kann es gut sein, auf Wissen zu verzichten? Es ist auch das oftmals Überraschende, ja Widersprüchliche und Rätselhafte der Empfehlungen und Betrachtungen des chinesischen Weisen, das mir sein Buch so besonders schätzens- und bedenkenswert macht. Hier als ein Beispiel das Kapitel 58:
Kapitel 58
Wenn die Verwaltung keinen Durchblick hat,
gedeiht das Volk.
Wenn die Verwaltung zielstrebig eingreift,
fehlt es dem Volk an allem.
Das Glück wird vom Unglück geboren.
Das Unglück wohnt im Herzen des Glücks.
Wer kann schon sagen, wie das ausgeht?
Wenn der Herrscher nicht rechtschaffen ist,
werden die rechtschaffenen Menschen zu Betrügern
und sogar edle Menschen werden unanständig.
Die Menschen sind im Irrtum
wie Taucher im Wasser,
und das schon seit langem.
Deshalb: Der Herrscher, der den Weg kennt,
ist gleichmütig und lässt das Volk in Ruhe.
Er ist gerade und begradigt nichts.
Er ist erleuchtet
und versucht nicht zu glänzen oder zu blenden.
Anmerkung:
Es hängt vermutlich sowohl mit dem Inhalt als auch mit dem Alter des Texts und den Besonderheiten der chinesischen Sprache zusammen, dass die Übersetzungen des Tao-Te-King sehr unterschiedlich ausfallen können. Die Worte des weisen Lao Tse sind mehrdeutig und wirken auch gerade dadurch. In Deutschland ist nach wie vor die – 1911 in Jena (Verlag Eugen Diederichs) erschienene – Version von Richard Wilhelm im Gebrauch. Eine ganz neue Fassung (2021, Philipp Reclam jun. Verlag) stammt von Günter Debon und bringt hier und da die im chinesischen Original offenbar vorhandenen Reime ins Deutsche, was man sonst kaum findet; Debons Ausgabe enthält auch einen überaus lesenswerten Anhang mit zahlreichen weiterführenden Hinweisen.
Die von mir verwendete Fassung orientiert sich an der 1842 erschienenen französischen Übersetzung von Stanislav Julien (Le Livre de la Voie et de la Vertu).