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Das Virus, das uns verrückt macht

oder: Sahnetorten und Erste Weltangst

Gastbeitrag von Paula Scholemann*

»Ce virus qui rend fou« – dieses Virus, das verrückt macht – ist der Titel des im Sommer erschienenen Buchs des Philosophen Bernard-Henri Lévy. 100 Seiten, ein Prolog und fünf Kapitel. Verkauft sich bestens. Gefunden habe ich es in der kleinen Buchhandlung Luluberlue in Hourtin an der französischen Atlantikküste nördlich von Bordeaux, wo ich seit einigen Jahren lebe.

Bernard-Henri Lévy, 1948 in Algerien geboren, stammt aus einer jüdischen Fabrikantenfamilie, wurde in den Nach-68er-Zeiten berühmt und ist geprägt durch die französische Lebensart und Literatur. Einen Philosophen von vergleichbarem Lebens- und Denkzuschnitt wird man in Deutschland vergebens suchen. Sein Buch »Das Virus, das verrückt macht« ist hochamüsant und reich an Erkenntnissen – Zumutungen und Widersprüche inklusive. Man kann es als Auflockerungsübung im sich derzeit verkrampfenden moralischen Denken ansehen. Und man muss hoffen, dass es bald auf Deutsch erscheint. An dieser Stelle beschränke ich mich darauf, ein paar der Dinge herauszustellen, die mich an diesem Buch faszinieren und die ich in derselben Form von einem deutschen Philosophen nicht erwarten würde.

1. Humor und der Mut sich lächerlich zu machen

Bernard-Henri Lévy ist Philosoph, Kriegs-Journalist und Autor von Theaterstücken. Er ist aber auch Händler von Tropenholz, Freund der Medien-Mogule und Millionär – geschätztes Vermögen 2004 = €150 Millionen. Lévy ist in Frankreich zugleich eine äußerst selbstbewusste Witzfigur: Seit 1985 wurde er neun Mal Opfer von Sahnetorten-Attentaten und ist unfreiwillig Protagonist des Liedes »L’entarté« (»Der Eingetortete«) des in Frankreich bekannten Chansonniers Renaud geworden.

Dieser »eingetortete« Denker schreibt einen leicht lesbaren und geistreichen, fast witzigen und provokativen Text. Nicht das Corona-Virus selbst ist das Thema, sondern »das Virus des Virus«. Im Grunde, meint Lévy, ist das Gerede über Corona viral gegangen, wurde zur einzigen Nachricht und hat uns verrückt gemacht.

»Ist es nicht erwiesen, dass das Tropfen von Wasser, wenn wir es unendlich oft hören, zu einem bedrohlichen Drachen wird? Und wie würden wir wohl reagieren, wenn die Verantwortlichen für Verkehrssicherheit mittels riesiger Lautsprecher an unseren Straßen – Kilometer um Kilometer – ohne Unterlass die tödlichen Unfälle des Tages bekannt gäben (S. 12–13)?«

Lévy leugnet die Gefährlichkeit des Virus nicht. Er hat auch keine Verschwörungstheorien parat. Für Lévy ist die Epidemie zwar »tragique«, aber im Grunde ein banales Ereignis der Geschichte. Und so spricht er von der »Première Peur mondiale«, der »Ersten Weltangst«. Denn es handle sich um eine Epidemie der weltweit umgehenden Angst und für den Philosophen gelte es, die „nicht-medizinischen Aspekte dieser Geschichte (S.15)« zu analysieren. Heißt das: Alle sind verrückt geworden – nur ich nicht?

»Eine Welt der Hunde-Herrchen, also Herrscher, die selbst Hunde sind und die zugleich die Menschheit wie Hunde dressieren. Diese Menschheit hat nur das Recht zu bellen, wenn man sie daran erinnert, dass sie aus Menschen besteht, und zu heulen, wenn sie einen Virus sich einfängt, und zu kläffen, wenn Herr Corona, unser König, ihr eine Lektion erteilt (S.103).«

Während die Welt vor Angst zittert, ist man mit Lévy nur platt, erstaunt, baff und schon wieder luzide genug, um die »Effekte des Virus auf unsere Gesellschaft und unseren Geist (S.14)« zu analysieren

2. Den Widerspruch aus Leidenschaft und Vernunft aushalten

Das erste Kapitel heißt »Komm zurück, Michel Foucault«. Wieso Foucault? Michel Foucault sagte, das Vorbild für die Schaffung des Staates waren zwei Institutionen: Krankenhäuser und Gefängnisse. Kein Wunder also, dass in der Corona-Krise Ärzten gehuldigt wird wie Heiligen und Übermenschen. Sie retten den Staat und die Gesellschaft. Doch Ärzte sind, wie alle Experten, Menschen, sagt Lévy. Sie sind fehlbar, sie agieren auf einem »Kampfplatz« (das deutsche Wort ist tatsächlich im französischen Text), sie wollen streiten und gewinnen – im knallharten Wettbewerb.

Wohin es führen kann, wenn Politiker von Ärzten beraten werden, haben die 1930er Jahre gezeigt. Sagt Lévy. Als deutsche Leserin stoppe ich an dieser Stelle kurz. Die 30er Jahre? War das nicht die Zeit der Sozialisten in Frankreich und der Nazis in Deutschland? Genau, sagt Lévy: Die »Hygienisten«, erzählt er, waren medizinisch ausgebildete Berater der sozialistischen Regierung um Léon Blum. Soziale Probleme wollten sie durch Hygiene-Maßnahmen lösen: öffentliche Badeanstalten, Parkanlagen, offene Architektur etc. Dieser von Medizinern entwickelte Ansatz wurde später von der Vichy-Regierung und Petain verwendet. Soziale Hygiene sei der Weg zu einer sauberen Rasse.

Mit diesem Beispiel zeigt Lévy, dass die Rolle von Medizinern in der Politik nicht unumstritten sein kann. Aus deutscher Sicht reibt man sich die Augen. Da spricht einer über die Schnittmengen sozialistischer und faschistischer Hygiene-Ideen mit dem Pandemie-Management unserer Zeit, ohne tausend Entschuldigungen und vorauseilende Richtigstellungen anzubringen? Es liest sich so leicht, nachvollziehbar und unschuldig. Es war eben so, es gab und gibt diese Schnittmengen. Es ist passiert, es passiert, was lernen wir daraus?

Natürlich geht es nicht darum, den Virologen autoritäte Allmachtsphantasien anzudichten, sondern darum das Prekäre ihrer Denkweisen und Handlungsmuster zu beleuchten. Lévy landet bei Platon: Mediziner betrachten Fälle und lösen diese nach dem Ausschlussverfahren. Für sie ist es nichts Besonderes, eine Behandlungsidee auszuprobieren und bei ihrem Scheitern eine neue zu suchen. Das ist für die Politik unnütz, denn die Politik braucht Codes, Regeln fürs Zusammenleben, die akzeptiert werden. Man kann sie nicht alle zwei Wochen umwerfen. Wäre es nach den rein medizinischen Gesichtspunkten gegangen, hätte man das »Confinement«, wie es in Frankreich heißt  (wörtlich: der Einschluss, heute: der Lockdown) beibehalten, solange bis keiner mehr einen Huster von sich gibt. Die Gesellschaft aber will leben. Die jungen Leute wollen einander berührem, sich lieben  Es braucht eine Rückkehr zur Republik. Zum Gespräch aller mit allen. Und nicht eine Rückkehr in die Angstfalle.

»Komm zurück, Michel Foucault!« Ein geniales, auch wildes Kapitel, das das leidenschaftliche Streben nach Vernunft rüberbringt. Aus Sicht der deutschen Kultur klingt es fast ein bisschen wie Sturm und Drang und wäre vermutlich ein Kapitel mit Tiefgang, innerer Zerrissenheit, luxuriös formulierten Schuldbekenntnissen und Zweifeln. Lévy aber zeigt den dahinter schwelenden Widerspruch zwischen Leidenschaft und Vernunft.

Der Text bleibt klar und als Leser schwebt man mit Lévy über den Dingen. Er präsentiert historische Vorbilder, Könige und Stereotypen – in ihrer Heldenhaftigkeit und in ihrer Fehlbarkeit. Der Widerspruch aus leidenschaftlichem und vernünftigem Streben wird nicht bierernst genommen und als unauflöslich gesehen. Leidenschaft und Vernunft sind vielmehr komplementär: Das Widersprüchliche wird mit einem Augenzwinkern genommen, das Lächerliche wird riskiert, einkalkuliert.

3. Lacan – wie Freud, nur anders

Henri-Bernard Lévy macht sich lustig: Es gibt Menschen, die meinen, das Virus könnte sprechen. Das Virus hat uns etwas mitzuteilen. Aber das stimmt nicht: Nicht ist toter als ein Virus. Bakterien, das wissen wir, sind lebendig. Das Virus aber ist tot.

Und so wie in der deutschsprachigen Literatur Sigmund Freud für alles Mögliche herangezogen wird, ziehen französische Philosophen gerne Jacques Lacan zu Rate. Lacan sagt: Die Sprache gibt Zugang zur Ordnung der Welt. Die Sprache nutzen wir, um zu benennen. Durch das Benennen machen wir die Welt fassbar und die Republik kann darüber zu Rate gehen, was geschehen soll. Mit Leidenschaft und Vernunft.

Lévy denkt in diesem Sinne über das Virus nach. Hätten wir die Sprache nicht, um über dieses Virus zu sprechen und zu schreiben, dann hätte das Virus in unserer Welt keine Existenz. Wir würden nicht sagen: Er hat Corona. Wir würden sagen: Er hustet, er ist schwer krank. Es ist gut, mit der Sprache Dinge zu benennen und diese dadurch greifbar zu machen. Das erlaubt Fortschritt, Entwicklung, Verarbeitung. Wir leiden allerdings unter dem Virus des Virus, wenn wir uns von den Dingen in den Wahnsinn treiben lassen, die wir entdeckt und sprachlich benannt haben.

Sind Bernard-Henry Lévys Gedanken über Corona typisch französisch? Vielleicht. Jedenfalls versucht Lévy nicht, sein Nachdenken Schablonen und Parolen unterzuordnen. Er tut mit aller Freiheit und allem Esprit das, was Philosophen wohl tun sollten: Er benennt die Tatsachen – auch die geistigen Tatsachen, gibt ihnen Bedeutung und lässt Raum für Gelächter.

* Dr. rer. pol. Paula Scholemann lebt als Autorin und Beraterin in Montalivet (Nouvelle-Aquitaine), wo sie ein Büro für Kreativität, Didaktik und Politik betreibt. Zuletzt erschienen: »Kreativität und Visionen bei politischen Projekten – Ein Transfer aus der Kreativitätsforschung in die Politische Theorie« (Springer VS März 2020).

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