Der Bundesgerichtshof und die »Wittenberger Sau«. Man kann auch mal was wegwerfen! (15.06.22)
Es gibt Prozesse, die man nicht führen sollte. Einer von ihnen ging am 14. Juni 2022 zu Ende. Die Pressemitteilung Nr. 094/2022 des Bundesgerichtshofs ist reichlich ungeschickt überschrieben mit »Bundesgerichtshof zu Wittenberger Sau«. Wer diese Überschrift liest, könnte denken, der BGH habe in einer Frage des Landwirtschaftsrechts oder des Tierwohls entschieden. Das ist aber nicht so. Es ist ein bitterernster Fall. Die »Wittenberger Sau«, die man besser in Anführungszeichen gesetzt hätte, ist ein antisemitisches Sandsteinrelief an der Wittenberger Stadtkirche. Sie stammt aus dem 13. Jahrhundert und zeigt eine Sau, an deren Zitzen zwei Menschen saugen, die durch ihre Spitzhüte als Juden identifiziert werden. Ein ebenfalls durch seinen Hut als Jude zu identifizierender Mensch hebt den Schwanz der Sau und blickt ihr in den After. Das Relief selbst und die Tatsache, dass sie seit über mehr als einem halben Jahrtausend an einer christlichen Kirche zu sehen ist, ist also ein Ausdruck der traurigen Tradition des christlichen Judenhasses, zu dem sich leider auch Martin Luther bekannte.
Ein jüdischer Bürger hatte auf Entfernung des Reliefs geklagt. Die evangelische Kirchengemeinde Wittenberg, zu deren Verantwortungsbereich die Stadtkirche gehört, verteidigte sch damit, das Relief stehe seit 1988 im räumlichen Kontext zu einer Bodenplatte, auf der geschrieben steht: »Gottes eigentlicher Name / der geschmähte Schem Ha Mphoras / den die Juden vor den Christen / fast unsagbar heilig hielten / starb in sechs Millionen Juden / unter einem Kreuzeszeichen.« Dazu steht in hebräischer Schrift der Beginn von Psalm 130: »Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir«.
Der Bundesgerichtshof wies mit Urteil vom 14. Juni 2022 die Klage ab; genauso hatten schon die Voinstanzen entschieden. Zwar verhöhne und verunglimpfe das Relief das Judentum als Ganzes und beleidige damit auch den jüdischen Kläger. Durch den Text auf der Bodenplatte werde die Beleidigung aber gewissermaßen zurückgenommen, so dass es sich nunmehr um ein gegen den Antisemitismus gerichtetes Mahnmal handele.
Das hätte man auch anders sehen können. Der frühere Vorsitzende des 2. Strafsenats beim BGH, Thomas Fischer, hatte vor kurzem argumentiert, solange das Relief an seinem alten Ort bleibe, wirke die drastische Bildbotschaft für sich genommen in den öffentlichen Raum und bleibe eine Beleidigung, zumal niemand den Betrachter zwingen könne, den Text in der Bodenplatte zu lesen. Tatsächlich ist es für einen einigermaßen intelligenten Zeitgenossen kein Problem, jede Beleidigung mit einem erheuchelten »Disclaimer« wirkungsvoll unters Volk zu bringen. So hatte der Satiriker Böhmermann seine beleidigenden Äußerungen über den türkischen Präsidenten dadurch zu rechtfertigen versucht, dass er sie als Beispiel dafür bezeichnete, was man nicht sagen darf. Die Gerichte einschließlich des Bundesverfassungsgerichts hatten ihm diesen »Trick« nicht durchgehen lassen, gewiss zu Recht.
Natürlich ist die Gerichtsbarkeit der Meinungs- und der Kunstfreiheit verpflichtet. Und der BGH ist sicherlich weit davon entfernt, dem Antisemitismus Vorschub leisten zu wollen. Man kann auch die Vergangenheit nicht durch Demontage von Reliefs ungeschehen machen. Andererseits ist nicht alles erhaltenswertes Kulturerbe, weil es alt ist. Man muss nicht jede Scheußlichkeit aufbewahren, das macht man ja sonst auch nicht. Man kann auch mal was wegwerfen!
Die Wittenberger Sache stand, das wollen wir zugeben, rechtlich auf der Kippe. Es kann auch sein, dass der Prozess weiter geht und das Bundesverfassungsgericht entscheiden muss. Aber der Fall zeigt auch eine Schwäche des Beleidigungsrechts. Denn oft besteht die Hauptwirkung von Beleidigungsprozessen darin, dass sie die Beleidigung publik machen, sie verstärken und perpetuieren. Das war auch im Wittenberger Fall so. Bis zur Klageerhebung vor einigen Jahren war das Wittenberger Relief wenig bekannt. Das hat sich geändert. Es war absehbar, dass es so kommen würde und es wäre besser gewesen, die Kirchengemeinde und der Kläger hätten sich frühzeitig geeinigt. Wenn man schon der Meinung ist, es sei wichtig, dass eine Beleidigung aufgrund ihres Alters in ihrer vollen Boshaftigkeit und Monstrosität jedermann zugänglich bleibt, hätte man doch wenigstens den von der Kirchengemeinde gewollten Mahnmal-Charakter so deutlich direkt neben dem Relief machen können, dass er jedem Betrachter ins Auge springen müsste.