»Der Mensch muss handeln, als wäre er unsterblich« (01.03.23)
Von allen Philosophien aller Zeiten und Kulturräume ist als untrügliches Kennzeichen tiefsitzender Dummheit die Neigung des Menschen anerkannt, seine eigenen Überzeugungen für untrüglich wahr zu halten. Im exakten Gegensatz zu dieser Einsicht sinkt gegenwärtig weltweit und national die Bereitschaft, einander zuzuhören und Gegensätze mit Kompromissen erträglich zu machen. Das alles mit beachtlicher Rasanz. Eine Folge ist, dass sich gerade bei nachdenklichen Geistern das düstere Gefühl ausbreitet, die Menschheit eile ihrer Selbstzerstörung mit raschen Schritten entgegen.
Solche moribunden Stimmungen sind nicht neu. Das zeigt der untenstehende Brief des griechischen Dichters Nikos Kazantzakis aus dem Jahre 1950. Damals waren es der Korea-Krieg, das nachwirkende Grauen des Zweiten Weltkriegs und des Einsatzes von Atomwaffen in Hiroshima und Nagasaki, die den Lebenshorizont mit Angst schwärzten.
Nikos Kazantzakis, der am 2. März 1883 in Kreta zur Welt kam, Jura in Athen und Paris studierte, war ein unruhiger Geist, der ein unruhiges Leben führte. Er sprach neben Griechisch auch Englisch, Französisch, Spanisch, etwas Russisch und Deutsch, war in der überreichen griechischen Philosophie ebenso zu Hause wie im christlichen Denken und besonders in der deutschen Literatur und Philosophie. Er promovierte über Friedrich Nietzsche, übersetzte Goethes »Faust«, war zeitweise Buddhist, schwärmte für Clara Zetkin ebenso wie für Homer. Sein berühmtestes Buch war ein 1946 erschienener Roman, der die Vorlage zu einem ikonischen und mit mehreren Oscars bedachten Spielfilm gab: »Alexis Sorbas«. Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte Kazantzakis mit seiner Frau meist in Südfrankreich. Er starb 1957 in Freiburg im Breisgau. In seinem Brief vom 20. Dezember 1950 wandte er sich mit einem Neujahrsgruß an einen schwedischen Freund und sprach ihm und wohl auch sich selbst einen Trost zu, über den sich bis heute nachdenken lässt, ebenso wie über den Satz, den Kazantzakis für seinen Grabstein schrieb: »Ich hoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.«
»Antibes, 20. Dezember 1950
Sehr geehrter Freund,
das neue Jahr bricht voller Schrecken über uns herein. In diesen Tagen befindet sich die Menschheit am Rande des Abgrunds. Während ich Ihnen schreibe, ist mein Herz voller Angst, Bitterkeit und Empörung. Was ist das nur für ein Schicksal, das die Menschen beherrscht?
Hat es Augen oder hat es keine? Hat es ein Gehirn? Gehorcht es einem Geist, der ihm überlegen ist? Sind Idiotie, Ungerechtigkeit und Blut unentbehrlich für den Fortschritt der Menschheit auf Erden? Ich bin von unermesslichem Schmerz überwältigt; dennoch sitze ich den ganzen Tag hier und schreibe, weil es so sein muss: Der Mensch muss so handeln, als wäre er unsterblich. Ihnen, Ihrer Frau, Ihren Kindern, ganz Schweden und der ganzen Welt wünschen meine Frau und ich Frieden, Glück und Freiheit.
Die großen Tugenden, die immer mehr verschwinden, verstecken sich in einigen wenigen, sehr einsamen Herzen und nehmen dort Zuflucht. Morgen werde ich Ihnen ein kleines Glas mit attischem Honig schicken, das Sie am Neujahrstag unter Ihre Matratze legen können, so wie wir es auf Kreta tun, damit Sie das ganze Jahr über »duftenden Atem« haben.
Möge Gott Sie segnen und alle beschützen, die Sie lieben!«
Den Brief findet man (in englischer Sprache) in dem Buch: The selected Letters of Nikos Kazantzakis. Edited and Translated by Peter Bien. Princeton University Press. 2020. ISBN 9780691203171