Der Mond, sein Schatten und ich (01.11.23)
Ich nehme meinen Weinkrug und gehe trinken,
hinaus zu den Blumen, ohne Freunde.
Ich erhebe mein Glas auf den Mond, er soll mittrinken,
so sind wir schon drei, mein Schatten eingerechnet.
Aber der Mond trinkt nichts,
und mein Schatten tuts ihm schweigend nach.
Ich werde mit den beiden verreisen,
Ende Mai gehts los.
Wenn ich singe, tanzt der Mond.
Wenn ich tanze, tanzt auch mein Schatten.
Wenn wir nüchtern sind, teilen wir drei die Freuden des Lebens.
Wenn wir betrunken sind, geht jeder seiner eigenen Wege.
Wir können uns aufeinander verlassen, auch auf Reisen.
Wir sind auf der Milchstraße verabredet.
Mondgedichte gibt es viele, wahrscheinlich in jeder Sprache der Welt. Dies hier ist gewiss eines der unsentimentalsten Exemplare der Lunar-Lyrik. Es gibt dem eigenartig luziden Tiefsinn, der sich des geübten Trinkers im Vollrausch bemächtigt, poetische Würde.
Die kurzen Zeilen stammen von einem Chinesen. Li Bai (manchmal auch Li Po oder Li Bo genannt) lebte im 8. Jahrhundert (701 – 762) unserer Zeitrechnung. Es waren die Jahrzehnte einer ihrem Ende entgegenstrebenden Epoche regsamer Wirtschaft und kultureller Blüte. Die meisten seiner gut 60 Lebensjahre verbrachte Li Bai als Wander-Poet. Unterbrochen hat er seine Wanderschaft vermutlich nur einmal, als er für zwei Jahre in den Beamtendienst wechselte und als kaiserlicher Poesielehrer sein Geld verdiente. Viele seiner Gedichte handeln von Freundschaft, von Liebe und vom Wein. Offenbar war er ein leidenschaftlicher Trinker. Seinen Tod soll er gefunden haben, als er sich, in der Absicht den Mond respektive dessen Spiegelbild zu umarmen, volltrunken in ein Gewässer stürzte.
Die Gedichte des Li Po, der manchmal auch Li Bai oder Li Bo genannt wird, sind in zahlreiche Sprachen übersetzt. Alfred Georg Hermann Henschke (Klabund) und Günter Eich haben das Mondgedicht ins Deutsche übersetzt. Bei meiner oben wiedergegebenen Version habe ich mich an der Übersetzung des amerikanischen Dichters Sam Hamil (1943 – 2018) orientiert.
Eine Sammlung amerikanischer Übersetzungen chinesischer Lyrik mit dem Titel A Drifting Boat, Chinese Zen Poetry (Herausgegeben von P. Seaton und Dennis Maloney) findet sich hier: