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»Der Staatsmann klingelt, der Vorhang geht auf: Krieg!« (15.10.22)

Gastbeitrag von Walter Serner

»Die Welt ist langweilig.

Die Tatsache ist ebenso unbestreitbar wie ungenügend verbreitet. Als das erste Gehirn auf den Globus geriet, erstaunte es über seine Anwesenheit und wußte mit sich und der Welt nichts anzufangen. Inzwischen hat man sich an das Gehirn gewöhnt, indem man es ignoriert, aus sich einen Geschäftemacher gemacht und aus der Welt ein Theater. Dieser immerhin nicht sonderlich heroische Ausweg aus einem sehr unterschätzten Dilemma ist gleichwohl nicht uninteressant und vollends unabsehbar.

Denn nachweisbar fällt es manchem kräftigen Lokomotivführer jährlich wenigstens einmal ein, daß seine Beziehungen zur Lokomotive durchaus nicht zwingend sind und daß er von seiner Ehefrau nicht viel mehr weiß als nach jener warmen Nacht im Stadtpark. Und manch einer, der sich mehrfach sein Leben und Hab und Gut versichern läßt, bekommt im Bett eine Gänsehaut, wenn ihn ein böser Traum rüttelt und daran erinnert, daß er im Grunde nicht weiß, wofür er wuchert.

Und kommt es besonders intensiv, so ist dem Menschen verteufelt unklar, warum er gerade jetzt im Zimmer steht und raucht, in ein Schaufenster glotzt und schnuppert, sich reden hört und die Lippen kräuselt, herumtrillert und seine Hand liebkost. In diesen harmlosen Fällen ist die Möglichkeit, daß das penetrante Gefühl der Langeweile zu einem Gedanken über ihre Ursache sich erhebt, am größten. Solch ein Augenblick gebiert den Desperado (hoppla!), der als Prophet, Hochstapler, Künstler, Anarchist oder Staatsmann Unfug treibt. Napoleon, ein doch wirklich tüchtiger Jung, behauptete unverantwortlicherweise, der wahre Beruf des Menschen sei, den Acker zu bestellen. Wieso? Fiel ein Pflug vom Himmel? Sohin also: auch er, der ansonsten sehr erfreulich frische Hemmungslosigkeiten äußerte, war streckenweise Stimmungsathlet.

Schade. Sehr Schade. Der jeweilige Zustand der bewohnten Erdoberfläche ist also lediglich das folgerichtige Ergebnis einer unerträglich gewordenen Langeweile. Nur von diesem Ende aus ist es zu verstehen, daß Millionen Menschen dem Wink Einzelner, einander totzuschlagen, demütig, willig, oft sogar begeistert gehorchen. Sie wissen im Grunde eben nicht, wozu sie eigentlich da sind, was war und werden soll. Sie ahnen vielleicht dumpf, daß die Regisseure ihres Schlachtfeldtodes dieses Schauspiel ja nur inszenieren, weil auch sie mit sich nichts anzufangen wissen und lediglich die größere Kraft mitbekamen, die Langeweile erfolgreicher und ausgiebiger sich zu vertreiben.

Und siehe: Gestank kommt in die Welt und wird immer dicker. Alles wird selbstverständlich. Man lügt, betrügt, säuft, schläft bei, betet, ist je nach dem Erfordernis Diplomat oder Regierungsrat, Sänger oder Soldat und ähnliches, da allein diese vielseitigen Tätigkeiten einem sein ganz enormes Zerstreuungsbedürfnis befriedigen können. Aber das geschickte Gespenst der Langeweile steht immer hinter allem und fängt sich schließlich mit einem kurzen Griff die ganze Bande.

Der Staatsmann klingelt, der Vorhang geht auf: Krieg!

Die Menschen in den Städten rennen durcheinander, erschreckt, kopflos, verwirrt. Wo ist ein Halt? Ein Feststehendes? Ein Zweck? Ein Ende? Aber das Arrangement ist gut: die Zeitungen schreien Hurrah und telephonieren mit dem Ministerium wegen der Motivierungs-Phraseologie; Musik zieht auf und ersäuft jede Änderung; große Reden werden auskalkuliert, historisch-wertvoll gefeilt und in die nun berauschte Menge geträufelt; und der liebe Gott wird persönlich bemüht, das Schlachten zu protegieren. Und alsbald, nach dieser tiefangelegten Reklame, platzen die ersten Granaten. Der Staatsmann in seiner Loge hat nun sein Spektakel, die Menschheit einen grausigen Zeitvertreib, und der große Tod, der Hunderttausende erlöst, verneigt sich vor der Langeweile, die schon nach dem ersten Akt Zuschauer und Akteure wieder befällt.

Ja, die Welt ist langweilig. Der Zeitpunkt, diese unbestreitbare Tatsache sich ganz zu eigen zu machen, ist günstig. Ich erhoffe mir von ihrer allgemeinen Verbreitung die wirksamste Bekämpfung der Langeweile.«

*Walter Serner (eigentlich Walter Eduard Seligmann) wurde 1889 in Karlsbad geboren und 1942 von den Nazis ermordet. Er war von Ausbildung Jurist und wurde als dadaistischer Schriftsteller bekannt. Eines seiner bis heute meistgelesenen Werke ist der 1915 – also im zweiten Jahre des Ersten Weltkriegs – erschienene Essay »Letzte Lockerung«, aus der die oben wiedergegebene Passage stammt.

Mehr zu Serner hier: https://christophschmitzscholemann.de/walter-serner-zum-100-geburtstag

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