1861

Arbeitsrecht

Der Wahrheit und der Gerechtigkeit dienen

Erwiderung auf Hohn, BB 1993, 2385ff.


Christoph Schmitz-Scholemann

I.
Lug und Trug

In seinem Aufsatz ›Grundrechte und Grundrechtsunfähigkeit‹ (BB 1993, 2385ff.) stellt Hohn unserer Gesellschaft eine schlimme Diagnose: Das Böse* ist auf dem Vormarsch! Und es marschiert nicht nur, es nistet, grassiert und zersetzt. Wohin man den Blick auch wendet: Lug, Trug und Zwietracht allenthalben.

Damit sei aber, sagt Hohn, leider erst die eine Hälfte der Wahrheit ausgesprochen. Die andere Hälfte erscheint ihm beinahe noch bitterer: Die Justiz, eigentlich dazu ausersehen, nach dem einen Guten und Wahren zu suchen, gefalle sich in Opportunismus und Permissivität. Sie scheue das Risiko, sich auf die Wahrheit festzulegen. Statt dessen schaffe sie Spielräume der Lüge. Sofern sie nicht selbst bereits eine Agentur des Bösen geworden sei, verhalte sie sich wertneutral, frage nicht nach der Moralität der Standpunkte, entscheide nicht zwischen Gut und Böse, sondern begnüge sich damit, die feingeschliffenen und gefährlich blitzenden Scheinargumente der alerten Anwälte des Bösen widerzuspiegeln. Die Richter seien dem Irrglauben erlegen, ein – ohne moralische Voraussetzungen, aber in den formalen Grenzen der Prozeßordnung gefühter – Diskurs und der sich daraus bildende Konsens bedürften keiner weiteren Rechtfertigung; die Justiz sei krank. Sie leide an moral insanity.

Und doch: Verloren, so Hohn, verloren sind wir noch nicht. Man soll sich, sagt er, nicht auf das Glück eines hohen Lebensstandards und Unterhaltungswerts kaprizieren, sondern sein Leben zwischen Gut und Böse planend ordnen und sich auf seinen Tod einrichten. Der postmoderne Mensch soll wieder lernen, der Schöpfungsordnung zu trauen. Dann kann er die Harmonie von Wahrheit und Gerechtigkeit wieder erfahren und das Gute bewirken. Von der Justiz erwartet Hohn , daß sie sich mit Macht auf die Seite des Einen Guten stellt und das Böse bekämpft.

II.
Probe aufs Exempel

Es wäre leicht, sich über die – sagen wir: etwas antikisierende Wortwahl Hohns (Der Ungehorsam des Menschen gegen die Ethik frommt nicht zum lauteren Sozialverhalten) zu mokieren. Auch ließe sich bemängeln, daß Hohns Brandrede sich nicht ganz auf der Höhe der aktuellen rechtsphilosophischen und ethischen Diskussion bewegt.

Aber darum geht es mir nicht. Es ist, wie ich meine, das gute Recht eines jeden, der unter den schrecklichen Ungerechtigkeiten unserer Zeit leidet, gewissermaßen wie ein Kreuzritter in die Lounge des Justizzentrums zu sprengen und den Richtern den Marsch zu blasen. Und außerdem: Verleiht Hohn nicht einer sehr verbreiteten Sehnsucht Ausdruck, wenn er Vertrauen in die Schöpfungsordnung, lauteres Sozialverhalten, Harmonie, Gerechtigkeit und die Herrschaft des summum bonum fordert? Welcher redliche Umweltfreund und Familienschützer wollte ihm widersprechen? Und ist es nicht die Wahrheit, daß die Justiz zwar immer mehr und immer komplizierter begründete Urteile hervorbringt, aber immer weniger Gerechtigkeit? Betrug als Volkssport, Gewalt auf der Straße, Rotlicht-​Gestalten in der Politik und Richter, die sich in endlose Debatten verstricken lassen, sogar ausgewiesenen Verbrechern noch zuhören, anstatt im Namen des summum bonum auf den Tisch zu hauen – hat Hohn nicht recht?

Machen wir die Probe aufs Exempel. Sehen wir zu, was geschieht, wenn der Richter tut, was der Kreuzritter fordert, nämlich den Kampf pro bono contra malum zur einzigen Richtschnur seiner Entscheidungen macht.

Voraussetzung für jede Entscheidung ist die Unterscheidung. Was der Richter dazu braucht, sind Unterscheidungsmerkmale. Die Frage lautet: Woran kann der Richter das Böse erkennen? Welches sind die Tatbestandsmerkmale des Bösen und wie lassen sie sich feststellen?

Das Böse ist kein körperliches Wesen (wenn es nicht überhaupt, wie manche Philosophen gesagt haben, ein Unwesen ist). Man kann von ihm sinnvollerweise weder behaupten, daß es immer oder wenigstens fast immer Hörner hat oder einen dicken Bauch oder das Haar lang trägt, daß es Zigarren raucht, einer bestimmten Partei angehört, grün ist oder sichelförmig. Das Böse kann zwar Formen und Farben annehmen, aber es ist nicht irgendein physisch meßbarer Zustand oder Vorgang. Es handelt sich eben um etwas Meta-​Physisches. Das bringt für den Richter naturgemäß Probleme mit sich, weil die Beweismittel, die ihm das Gesetz an die Hand gibt, auf physische Gegebenheiten zugeschnitten sind.

Nun gut, das Gerichtsverfahren erschöpft sich zum Glück nicht darin, äußerliche Tatsachen festzustellen; seine vornehmste Aufgabe besteht darin, das Rechtliche zu erkennen. Wahrscheinlich müssen wir hier, im Reich der Ideen und Gedanken, nach den Unterscheidungsmerkmalen zwischen Gut und Böse suchen.

Da Hohn in seinem Aufsatz sehr nachhaltig (zum Teil mit Fundstellen) vom Bösen spricht, tun wir ihm nicht unrecht, wenn wir annehmen, daß er etwas über das Böse weiß, was dem Richter von Nutzen sein kann. Das Böse, sagt er, unternimmt eine ganze Menge, es maskiert sich zum Beispiel, ferner entwickelt es Fleiß bei der Konstruktion von Rechtfertigungstheorien, es gefällt sich in Disharmonie, es gibt kein Terrain kampflos preis, es hat Schleusen und öffnet diese gelegentlich. Das Böse ist einerseits ohne Metaphysik nicht definierbar, andererseits jedoch an seinen praktischen Auswirkungen zu messen. Es handelt sich beim Bösen um den Teil eines größeren Ganzen, nämlich um einen Teil der Freiheit; sein Gegenstück ist das Gute und das Wahre, ist etwas Harmonisches, ja mehr noch, es ist das Eine schlechthin.

Fassen wir zusammen: Das Böse ist etwas Freies, Fleißiges, Vielfältiges, Hartnäckiges, Metaphysisches, Praktisches, das sich hinter Masken oder Schleusen verbirgt. Da das Gute das Gegenteil des Bösen ist (der Richter soll ja zwischen beiden entscheiden), so müßte es sich, wenn wir Hohns Aussagen über das Böse weiterdenken, bei dem Guten um etwas Unfreies, Faules, Einfältiges … Aber nein! So hat es Hohn ganz bestimmt nicht gemeint.

›Doch wie meint er es dann?‹ fragt sich der Richter. ›Will er vielleicht die Rechtfertigungsgründe abschaffen?‹ ›Gewiß nicht‹, wird Hohn dem Richter wohl antworten, ›worum es mir geht, ist das Überborden fauler Ausreden.‹ ›Einverstanden‹, sagt der Richter, ‚aber sagen Sie mir doch bitte, woran ich erkenne, ob eine Ausrede faul ist?‹ ›Da wäre zum Beispiel das Gesetz!‹ ›Aber das Gesetz ist vieldeutig! Welcher Auslegung soll ich folgen? Welche ist gut und welche ist ein feingeschliffenes böses Scheinargument?‹ ›Die Schöpfungsordnung!‹ wird Hohn schließlich sagen, ›Vertrauen Sie sich der Schöpfungsordnung an!‹ ›Gut. Aber wer setzt da die Maßstäbe? Der Papst? Eugen Drewermann? Soll ich bei Martin Buber nachlesen oder bei Martin Luther? Bei Thomas Müntzer oder Kardinal Ratzinger?‹

Wir geraten, es ist unbestreitbar, vom Hölzchen aufs Stöckchen und aufs Hölzchen zurück, und es gibt, wenn man nicht doch wieder in dem von Hohn so verabscheuten freien Disput landen (Hohn würde wohl sagen: verkommen) will – dieser disharmonische Disput selbst ist ja für Hohn das Böse –, nur einen Weg: Jemand muß zur Vermeidung des wortmächtigen Disputs ein Machtwort sprechen. Hohn sieht es selbst so, wenn er sagt, das gefährdete Humanum sei gegebenenfalls mit Macht – meint er vielleicht: mit Gewalt? – zu schützen. Das ist konsequent: Wenn es nur das Eine Gute gibt und die Aufgabe der Justiz darin besteht, dieses Eine herauszufinden, dann sind kontroverse Meinungen, dann ist dieses ganze Spiel und Widerspiel von halben Wahrheiten, zweifelhaften Ansichten, taktischen Manövern, aus denen so viele Prozesse bestehen, ein Werk des Bösen und deshalb unbedingt zu vermeiden. Und noch eins: Wer vor Gericht unterliegt, ist, da der Richter ja nicht nur ein Urteil gesprochen, sondern zugleich das metaphysische Eine Gute erkannt hat, nicht nur ein Pechvogel und im Unrecht, sondern er steht auf der Seite des Bösen.

Wäre es da nicht einfacher, diese umständlichen komplizierten Verfahren, in denen jeder einfach sagt, was er möchte und wovon er glaubt, daß es ihm nützt, ganz abzuschaffen und statt dessen ein Gremium moralisch hochwertiger, mit der Schöpfungsordnung und der Natur vertrauter Persönlichkeiten ohne langes Federlesen entscheiden zu lassen? Hohn spricht diesen Gedanken nicht aus – aber wie sonst soll seine Forderung nach dem Einen Guten und Wahren durchgesetzt werden?

Man kann es drehen und wenden wie man will: Wer die Aufgabe der Justiz darin sieht, dem vielfältigen Bösen mit Macht entgegenzutreten und dem Einen Guten zum Sieg zu verhelfen, der landet früher oder später in einem autoritären Gerichtsverfahren – wenn er überhaupt noch so etwas Formalistisches wie ein Verfahren für nötig hält. Und dies gilt unabhängig davon, wie man den Begriff des Einen Guten füllt: christlich oder national, naturverbunden, matriarchalisch, patriarchalisch, sozialistisch oder sonstwie.

III.
Der Wahrheit und der Gerechtigkeit dienen

In der Bibel steht: Richtet nicht, auf daß ihr nicht gerichtet werdet. Ich verstehe das nicht als Verbot, ein Richteramt auszuüben, sondern als eine Ermahnung: der Richter soll seinen Urteilsspruch nicht mit dem Urteil über Gut und Böse im metaphysischen Sinne verwechseln. Dieses Urteil steht nur Gott zu. Was das Eine Gute und Wahre ist, wissen die Menschen weder im allgemeinen noch im Einzelfall, zumindest wissen sie es nicht genau und schon gar nicht immer, und überdies können sie irren. Deshalb gebieten es die Vernunft und die Menschlichkeit, gerade nicht einen übermenschlichen, metaphysischen Maßstab bei der Urteilsfindung anzuwenden, sondern mit menschlichem Maß zu messen; dazu gehören so profane Dinge wie rechtliches Gehör, ein faires und zügiges Verfahren ebenso wie Praktikabilität, Interessenabwägung, Gesetzestreue, Logik, Konsensfähigkeit und manches mehr; sehr wichtige, aber eben nicht die einzigen Gesichtspunkte sind ethische und moralische Überlegungen. Heißt das, wie Hohn andeutet, daß Wahrheit und Gerechtigkeit zu kurz kommen? Nein. Es bedeutet nur, daß der Richter Wahrheit und Gerechtigkeit nach menschlichem Maß und mit menschlichen Mitteln anstreben soll. Deshalb sind die Urteile der Justiz keine Urteile über Gut und Böse und sollen es auch nicht sein.

Es ist nicht zu leugnen, daß sich die Gesellschaft und mit ihr die Justiz in einer Krise befinden. Wenn wir jetzt aber die Flucht in die Metaphysik antreten, werden wir kaum eines unserer Probleme lösen, statt dessen aber das demokratische summum bonum verspielen: Freiheit und Rechtsstaatlichkeit. Der demokratische Diskurs ist gewiß kein Gottesgeschenk; dazu hat er zu viele Schwächen; er schafft auch dem Irrtum und der Lüge Spielraum, das ist wahr; aber er tut es nicht, um den Irrtum zu befördern, sondern im Vertrauen darauf, daß sich im Wettbewerb der Meinungen das Richtige eher durchsetzt als durch Dekret einer keinen Widerspruch duldenden metaphysischen Instanz. Der demokratische Diskurs ist Menschenwerk. Wer ihn abschaffen will, und sei es mit den besten Absichten, der bringt uns in Teufels Küche.

Fußnote:

*) Hervorhebungen geben Textpassagen aus Hohns Originalbeitrag wieder.

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