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Übersetzungen

Drei Gedichte über die Elsbeere

 

I.

Seit Längerem schon treffen sich vier ältere Herren einmal im Monat zu einem frugalen, etwas leberwurstlastigen Abendmahl mit, meist leichten, alkoholischen Getränken. Einer von dem Quartett bin ich. Wir unterhalten uns über Gott und die Welt, vor allem über die literarischen Götter und Welten, lesen auch wohl aus neuester eigener Produktion. Vor gut zwei Jahren verhedderten sich unsere Gesprächsfäden aus irgendeinem Grunde an etwas ganz anderem, nämlich einem Baum. Es war der Baum des Jahres 2011, die Elsbeere. Wir stellten fest, dass es ein fabelhaftes Buch über die Elsbeere gibt, geschrieben von einem pensionierten Forstbeamten mit dem klangschönen Namen Wedig Kausch-Blecken von Schmeling. Was bei literarisch orientierten Menschen nicht verwundern kann, geschah schon bald: Es wurde beschlossen, Texte über die Elsbeere zu schreiben. Die Form war freigestellt, aber etwas literarisch sollte es schon sein.

Das war für mich eine prekäre Angelegenheit, denn ich hatte noch nie einen Elsbeerbaum in Natur gesehen. Anders meine drei Mitstreiter, die zu unseren Treffen Elsbeerzweige, Elsbeerblüten, Elsbeerbilder, Elsbeer-Brotbretter, Elsbeerschnäpse, Elsbeerpralinen usf mitbrachten. Ich redete nach Kräften mit, aber, ehrlich gesagt, fühlte ich mich im Kreise so ausgewiesener Naturkenner ein bißchen als Hochstapler. Mein Verhältnis zu Bäumen ist freundlich, aber völlig ungetrübt von Sachkenntnis. Ich bin in westdeutschen Großstädten aufgewachsen, meine Schule, das Dreikönigsgymnasium in der Kölner Innenstadt, stand an einer Straße, deren Bewohner sich gegen das von der Stadtverwaltung aus Gründen des greenwashing geplante Anpflanzen von Bäumen mit dem vermutlich zutreffenden Argument wehrten, dass dort seit Römerzeiten nie ein Baum gestanden habe. Warum denn jetzt auf einmal?

Im Mai 2018 hat mir dann Wolfgang Haak mit freundlich mahnendem Begleitschreiben zu Trainingszwecken ein Bild von einer ortsfesten Elsbeere, nämlich der Elsbeere im Park von Schloss Belvedere, geschickt mit dem Auftrag, sie zu finden. Ich bin mit dem reinsten Naturforscherherzen der Welt losgegangen und die Folge war ein zweistündiges mehrfaches aber leider völlig ergebnisloses Umrunden des russischen Friedhofs in Belvedere.

Im Sommer 2018 habe ich bei sengender Hitze zusammen mit meiner Frau und meinem jüngsten Sohn in der Nähe von Bitburg/Eifel eine nach genauen Google-Maps-Koordinaten lokalisierte Elsbeere gesucht. Die Suche dauerte mehrere Stunden, die wenigen Spaziergänger erwiesen sich als ortsunkundige tschetschenische Zuwanderer, mein Sohn zog sich bei der Wanderung durch dorniges Unterholz einen Hornissenstich zu, so dass schließlich, auch zur Wahrung des Familienfriedens, die Expedition als gescheitert abgebrochen werden musste.

Etwas später, an einem anderen Ort in der Eifel, haben wir dann tatsächlich eine Elsbeere gefunden, allerdings nicht, weil ich sie erkannt hätte, sondern weil vor ihr ein Schild stand: „Elsbeere – Baum des Jahres 2011“. Das war ein schöner, siegreicher Augenblick und es entstand eine ganze Serie von Photographien, auf denen ich allein und mit Frau und Sohn vor der Elsbeere lächle.

Trotzdem fühlte ich mich nicht berechtigt, einen literarischen Text über den inzwischen schicksalhaft gewordenen Baum zu schreiben. Und so verfiel ich auf den Gedanken, Elsbeergedichte in fremden Sprachen zu suchen und sie auf Deutsch zu präsentieren. Drei Gedichte sprachen mich besonders an, ein französisches, ein englisches und ein italienisches. Ich übersetzte sie und versah sie mit Kurzbiographien der Autoren und einer kurzen Vorrede, wie nun folgt.

 

II. Drei fremdsprachige Elsbeer-Gedichte mit Übersetzung

In der Gesellschaft der Bäume wirkt die Elsbeere wie eine vornehme Außenseiterin. Man findet sie kaum je mittendrin in einer Baumgruppe. Sie steht am Rand und wurzelt tief. Sie drängt sich nicht auf. Oft gibt sie sich erst auf den zweiten Blick als die einzigartige und mit hartem Eigenwillen ausgestattete Schönheit zu erkennen, die sie doch unzweifelhaft ist. Dies spröde und in einem gewissen Sinn sogar mehrdeutige Wesen der „schönen Else“ spiegelt sich auch in der Sprache: Die Elsbeere hat viele merkwürdige, vermutlich aus den Tiefen der regionalen Sprachgeschichten auf uns gekommene Namen. Einige davon muss sie sich mit anderen Bäumen teilen. Das ist nicht nur im Deutschen so. Auf Englisch zum Beispiel heißt die Elsbeere „service-tree“, was man auf Anhieb mit „Dienst-Baum“ übersetzen könnte, aber der „service“ vom „service-tree“ hat nichts mit dem room-service oder gar mit dem Tee-Service (also letztlich dem lateinischen „servus“ – Diener) zu tun, sondern ist eine Ableitung vom lateinischen „sorbus“, was, als taxonomische Kategorie genommen, auch die Vogelbeere oder Mehlbeere oder Eberesche umfasst. Gleiches gilt für das italienische „sorbo“. Einigermaßen sicher darf man für das französische Wort „alisier“ sein, dass es nur die Elsbeere meint, aber eben nur einigermaßen sicher.

Hier sind nun, ohne weitere Vorrede, die drei Elsbeergedichte, die ich, mit einiger Freiheit, übersetzt habe. Mangels eines anderen überzeugenden Kriteriums habe ich sie nach dem Geburtsdatum der Autoren angeordnet, und zwar in zeitlich absteigender Reihenfolge.

Byron Herbert Reece (14. September 1917 – 3. Juni 1958) war ein amerikanischer Lyriker und Erzähler. Er lebte in ländlichen und eher armen Verhältnissen als Farmer und Aushilfslehrer. Zu seinen Lebzeiten erschienen vier Gedichtbände und zwei Bände mit Erzählungen. In seinem Heimatstaat Georgia war und ist er anerkannt und gewann, auch posthum, eine Reihe von Auszeichnungen. Eine Schallplatte mit Mozart-Musik lief, als man ihn am 3. Juni 1958 in seinem Arbeitszimmer leblos auffand; er hatte sich, an einer schweren Krankheit leidend und ohnehin zu Depressionen neigend, das Leben genommen.

wir wünschten sie blieben länger

pflaume pfirsich apfel birne
und die elsbeere oben am hang
entrollen das blatt und entrollen die blüte.
sie geben der luft den würzigen duft,
wenn die blätter ihr herz bis zur neige
ausschütten. sie herrschen nicht lang,
doch herrschen sie heiter, wir
wünschten sie blieben noch lange hier.
wir wünschten, sie hätten verzauberte zweige,
da oben am hang, befreit
vom allesverzehrenden fließen der zeit.
doch weil sie bald gehen
sind sie schöner denn je
pflaume pfirsich apfel birne
und die elsbeerblüten weißer als schnee.

We Could Wish Them a Longer Stay

Plum, peach, apple and pear
And the service tree on the hill
Unfold blossom and leaf.
From them comes scented air
As the brotherly petals spill.
Their tenure is bright and brief.
We could wish them a longer stay,
We could wish them a charmed bough
On a hill untouched by the flow
Of consuming time; but they
Are lovelier, dearer now
Because they are soon to go,
Plum, peach, apple and pear
And the service blooms whiter than snow.

Charles-Nérée Beauchemin (20. Februar 1850 – 29. Juni 1931) lebte in Yamachiche, in der Nähe von Trois-Rivières, Quebec, also im frankophonen Teil Kanadas. Er war Arzt von Beruf und gehörte der Dichterschule „Le Terroir“ an. „Terroir“ heißt wörtlich „Boden“, hat aber im Zusammenhang mit der Dichtung eine etwas andere Färbung: Der „poète du terroir“ zum Beispiel ist der „Heimatdichter“. Beauchemins Gedichte waren für ländlich-regionale Motive und Tonlagen bekannt und wegen ihres spätromantischen Gefühlsreichtums sehr beliebt.

der singende zweig des elsbeerbaums

es ist mir beinahe verklungen
das schlummerlied das mir als kind
der elsbeerzweig einst gesungen
leise wispernd im wind

zweig den der windhauch wiegte
ach wundersamer gesang
in den meine kindheit sich schmiegte
du machst mich schaudern so bang

die wortlosen melodien
wie sag ich nur was sie mir sind
durch meine träume ziehen
weisen von blättern und wind

ach brächte das säuseln der lüfte
die tage der kindheit zurück
so gäben die lieder die düfte
dem herz eine stunde glück

kein echo gibt es mir wieder
das uralte kindergedicht
weder die lust der lieder
und die gärten der liebe nicht

der gesang des zweigs ist verklungen
und auch sein geheimnis versank
was der wind mir einstmals gesungen
nass wird mein aug und das herz wird krank

du melancholischer sänger
fass dich weine und schweig
es hört dich nun nicht länger
der singende elsbeerzweig 

La branche d’alisier chantant

Je l’ai tout à fait désapprise
La berceuse au rythme flottant,
Qu’effeuille, par les soirs de brise,
La branche d’alisier chantant.

Du rameau qu’un souffle balance,
La miraculeuse chanson,
Au souvenir de mon enfance,
A communiqué son frisson.

La musique de l’air, sans rime,
Glisse en mon rêve, et, bien souvent,
Je cherche à noter ce qu’exprime
Le chant de la feuille et du vent.

J’attends que la brise reprenne
La note où tremble un doux passé,
Pour que mon coeur, malgré sa peine,
Un jour, une heure en soit bercé.

Nul écho ne me la renvoie,
La berceuse de l’autre jour,
Ni les collines de la joie,
Ni les collines de l’amour.

La branche éolienne est morte ;
Et les rythmes mystérieux
Que le vent soupire à ma porte,
Gonflent le coeur, mouillent les yeux.

Le poète en mélancolie
Pleure de n’être plus enfant,
Pour ouïr ta chanson jolie,
Ô branche d’alisier chantant!

Der dritte Dichter ist der älteste. Francesco Petrarcha (20. Juli 1304 – 19. Juli 1374) ist zu berühmt, als dass man in einer dreizeiligen Biographie etwas Nützliches zu ihm sagen könnte. Zu dem unten wiedergegebenen Sonett nur soviel: Man weiß nicht ganz genau, ob es wirklich von Petrarca stammt. In einigen Ausgaben der „rime“ (Reime) ist es gar nicht enthalten, in anderen unter der Überschrift „Petrarca zugeschrieben“ oder als „rime estravaganti“ o.ä. Allerdings wurde ich mir beim Übersetzen immer sicherer, dass das Gedicht von einem ziemlich genialen Dichter stammen muss, vor allem wegen der Schlusszeile, auf die hier alles zustrebt. Es ist, wenn es von Petrarcha geschrieben wurde, sein ältestes erhaltenes Gedicht.

9. november 1336 – antwort an einen der von paris weggeschickt wurde

vielmals am tage fasst mich verzweiflung. mehr
als ich tragen kann quälen mich raue eisenketten
mit denen die welt mich hier fern von dir sehr
fest zu fest hält. ich weiß mich nicht zu retten.

nur du allein bist meine hoffnung. doch ich seh
dich nicht. schiel ich? bin ich erblindet?
ach dass mein leben mir nicht schwindet
ist es wohl zeit dass ich in meine heimat geh.

doch bin ich eingeschlossen von zwei seiten.
mir stehn die wasser zweier flüsse bis zum kinn.
von freiheit träum ich nur weil ich ein sklave bin.

kein lorbeer krönt mich. nur harte elsbeerblätter
beschweren mir die stirne. willst du mein retter
sein so sage mir nur eines: weinst du auch?

9. novembre 1336 – responsio mea ad unum missum de Parisiis

Più volte il dì mi fo vermiglio et fosco,
pensando a le noiose aspre catene,
di che ‘l mondo m’involve et mi ritene
ch’i’ non possa venire ad esser vosco.

Ché, pur al mio veder fragile e losco,
avea ne le man’ vostre alcuna spene;
et poi dicea: — Se vita mi sostene,
tempo fia di tornarsi a l’aere tosco. —

D’ambedue que’ confin son oggi in bando,
ch’ogni vil fiumicel m’è gran distorbo,
et qui son servo libertà sognando.

Né di lauro corona, ma d’un sorbo
mi grava in giù la fronte: or v’adimando
se ‘l vostro al mio non è ben simil morbo.

 

III.

Nachdem alle vier Elsbeer-Texte geschrieben waren, beschlossen wir, ein Buch daraus zu machen. Es erschien im Herbst 2018 als Privatdruck mit Illustrationen von Walter Sachs und einem Aufsatz von Andreas Pahl über die Elsbeere im Park von Schloss Belvedere. Der Titel lautet: Die Elsbeere – Wilde Früchte am Baum der Poesie. Enthalten ist ein Gedicht von Wulf Kirsten, eines von Michael Knoche und ein kleiner poetischer Zyklus von Wolfgang Haak.

 

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