Ein Fräulein stand am Meere (01.05.24)
Vor rund anderthalb Jahren war ich beauftragt, für einen Rundfunksender fünf Minuten über Heirich Heine zu schreiben, dessen 225. Geburtstag bevorstand. In diesem Beitrag ging es ua um den speziellen romantischen Ton in Heines Gedichten, die ja oft, und besonders im »Buch der Lieder« des jungen Heinrich Heine, so eine anziehende Mischung aus Naturverbundenheit, Melancholie, Liebesträumerei und Ironie haben. Als Beleg dafür zitierte ich in meinem Manuskript ein Gedicht, das ich seit Jahrzehnten liebe, wie folgt:
Ein Fräulein stand am Meere.
Sie stand so lang und bang,
Es wundert sie so sehre
der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein, sein Sie munter!
Das ist ein altes Stück:
Da vorne geht sie unter
und kommt von hinten zurück.
Mein Manuskript wurde angenommen, die Sendung produziert und drei Tage vor der Ausstrahlung meldete sich die Redakteurin und schrieb, in den ihr zugänglichen Heine-Ausgaben sei das Gedicht zwar im Wesentlichen sinngleich, aber doch mit einem etwas anderen Wortlaut abgedruckt, es heiße z.B. nicht »Ein« sondern »Das Fräulein stand am Meere« und im Gedicht gehe die Sonne nicht »Da« vorne, sondern »Hier« vorne unter. Falsche Zitate, schrieb die Redakteurin, auch wenn es noch so kleine Fehler seien, könne ein so renommierter Sender wie der ihre seinen Hörern auf keinen Fall zumuten. Ich recherchierte also und musste zu meiner Schande gestehen, dass sie komplett Recht hatte. Es war sogar noch schlimmer, denn ich hatte nicht nur falsch zitiert, das Gedicht stand überhaupt nicht in dem Buch, das ich als Quelle genannt hatte, sondern in einem deutlich späteren Band. Die Redakteurin war äußerst ungehalten und sagte, ich müsste den Beitrag neu schreiben und neu aufnehmen und zwar innerhalb der nächsten 48 Stunden. Das wollte ich natürlich vermeiden und behauptete, ich könnte innerhalb einer Stunde mindestens ein anderes genauso langes Heine-Gedicht finden, das zu der Beschreibung (v.a. Liebe, Melancholie, Ironie) passen würde und aus dem »Buch der Lieder« stammt, so dass in dem Beitrag nur das Gedicht ausgewechselt werden müsse. Und so suchte ich und fand u.a. die beiden folgenden Gedichte:
Ein alter Traum
Mir träumte wieder der alte Traum:
Es war eine Nacht im Maie,
Wir saßen unter dem Lindenbaum,
Und schwuren uns ewige Treue.
Das war ein Schwören und Schwören aufs neu,
Ein Kichern, ein Kosen, ein Küssen;
Daß ich gedenk des Schwures sei,
Hast du in die Hand mich gebissen.
O Liebchen mit den Äuglein klar!
O Liebchen schön und bissig!
Das Schwören in der Ordnung war,
Das Beißen war überflüssig.
…………….
Ein Scheidungsgrund
Und bist du erst mein ehlich Weib,
Dann bist du zu beneiden,
Dann lebst du in lauter Zeitvertreib,
In lauter Pläsier und Freuden.
Und wenn du schiltst und wenn du tobst,
Ich werd es geduldig leiden;
Doch wenn du meine Verse nicht lobst,
Laß ich mich von dir scheiden.
Die Redakteurin war begeistert, besonders von dem bissigen Gedicht. Ich war begeistert, dass ich nichts Neues schreiben musste und dass sich die alte Wahrheit wieder bewährte, die da lautet, dass Irrtum zwar nicht unvermeidlich ist, aber erstens menschlich, zweitens produktiv und drittens dass die Korrekturarbeiten Vergnügen bereiten können.