Ein Grund, so bald wie möglich nach Montpellier zu fahren (15.11.22)
Der Grund hat zehn Buchstaben: Edgar Morin. So lautet der Name eines Mannes, mit dem die französische Zeitung Le Monde kürzlich (Ausgabe 3. Oktober 2022, S. 32/33) ein großes Interview führte. Seit ich es las, geht es mir nicht mehr aus dem Kopf.
Edgar Morin ist ein in Frankreich bekannter Philosoph. Sein in diesem Sommer erschienenes Buch »Réveillons-nous!« ( »Wachen wir auf!«) gab der Zeitung Le Monde Anlass für ein großes Interview. Darin verriet Morin, dass eine seiner Lieblingsbeschäftigungen darin besteht, morgens in den Straßen von Montpellier spazieren zu gehen, sich am Sonnenschein zu erfreuen und mit den Leuten auf der Straße zu sprechen. Man kann ihn also noch treffen, wenn man nach Montpellier fährt. Man sollte aber nicht zu lange warten. Edgar Morin ist 101 Jahre alt.
Zur Welt kam er 1921 in Paris. Seine Mutter sollte wegen eines Herzleidens eigentlich keine Kinder bekommen. Sie wurde trotzdem schwanger, der Arzt riet zur Abtreibung, die misslang. Als ihr Sohn Edgar 10 Jahre alt war, starb die Mutter. Morin studierte, wurde Kommunist und arbeitete in der Résistance. Dann löste er sich von den Ideen der stalinistischen Kommunisten, wurde aus der Partei geworfen und war später viele Jahre Forschungsdirektor bei der ERSC, einer der Max-Planck-Gesellschaft vergleichbaren großen französischen Forschungsorganisation.
Morins nach eigener Einschätzung wichtigstes Werk trägt den für Nichtwissensachaftler etwas langweilig klingenden Titel »Methode«. Inhaltlich hat das 6-bändige Werk aber eine beträchtliche Sprengkraft für den herkömmlichen Wissenschaftsbetrieb: Morin will in der Wissenschaft das Ende des Spezialistentums und der Expertenherrschaft; Wissen, sagt er, lässt sich nicht sinnvoll in einzelne Gebiete aufteilen; Philosophie und Physik, Poesie und Geographie, Rechtswissenschaft und Erziehungswissenschaft, Mechanik und Biologie, Medizin und Wirtschaftswissenschaft, alle Zweige des Wissens sind gewissermaßen Zweige eines Baumes und können nur in ihrer Komplexität richtig verstanden werden. In einem Essay »Über die Quellen der Poesie« beschreibt Morin die Zielrichtung seiner Methode der »Komplexität«: Sie richtet sich gegen die »Ausbreitung einer Form des monetarisierten, zeitmesserischen, zerteilenden, aufgliedernden, atomisierten Lebens, und nicht nur des Lebens, sondern auch einer Organisation des Denkens, in dem spezialisierte Experten für alle Probleme zuständig sind«. Diese aufgliedernde, auf Expertenwissen setzende Herangehensweise ist für Morin nicht überflüssig, aber zu einseitig. Der Blick auf die Komplexität des Ganzen sollte Methode werden: Er sollte auch die andere, poetische Seite des Menschen betrachten, mit offenen Sinn für Musik, Traum, Tanz, Mystik, Schönheit, Mythos, Überraschungen, Liebe und Freundschaft. Morin zitiert Hölderlin: »Dichterisch wohnet der Mensch.«
In dem Interview mit Le Monde erfährt man noch eine Menge aus dem Leben Morins. Dass sein Onkel in Auschwitz ermordet wurde. Dass er selbst nach dem Krieg eine Zeitlang in der Verwaltung der französischen Besatzung in Deutschland arbeitete. Dass er sein ganzes Leben lang von seiner Mutter geträumt hat. Dass er sich mit 89 Jahren neu verliebte und auf die Frage, ob er glücklich sei, antwortet:
»›Das Glück hängt immer von externen und internen Faktoren ab. Je größer es ist, desto zerbrechlicher ist es. Der geliebte Mensch kann plötzlich verschwinden, er kann Dich verlassen oder sterben … Ich hatte sehr glückliche Augenblicke, aber ist deshalb mein Leben glücklich? Das kann ich Ihnen nicht sagen. Mein Leben kannte Leiden und Glücksmomente, schlechte Zeiten, Irrtümer, Umherirren. Ich würde lieber auf eine andere Frage antworten, die Frage nach der Poesie des Lebens – z.B. das Überströmen, das Gemeinschaftsgefühl, die Genussfreude, denn die Poesie ist die Hauptquelle des Glücks.‹
›Also, wie soll man leben?‹
›Poetisch leben. Partei ergreifen für Eros (Liebe, die vereint) gegen Thanatos (Tod, der zerstört). Was ich jetzt gerade versuche, das ist nicht zu überleben, sondern ich versuche zu leben. Das ist ein Vergnügen, eine Lust, morgens rauszugehen in die kleinen sonnigen Fußgängerstraßen von Montpellier, Leute zu treffen, mit denen ich spreche.‹«