Ein Hoch auf die Anästhesie! Zu einem Gedicht von Jules Verne (01.11.22)
Manchmal ist der Schmerz zu groß, als dass man Zeit hätte, sich mit der Bekämpfung der Ursachen aufzuhalten. Dann schlägt die Stunde der Betäubungsmittel. Es ist wahr, sie ändern an den tieferen Ursachen meist nichts, ebenso wahr ist, dass das Gespenst der Sucht um die Ecke schielt. Und doch, wer jemals unter schweren Schmerzen litt, weiß die Wirkung schneller medizinischer Hilfe durch eine Schmerzspritze zu schätzen.
Der als Romancier bis heute berühmte Jules Verne (1828–1905), der das untenstehende Gedicht schrieb, hatte mehr Schmerzerfahrung als ihm lieb war: Mit klassisch gebauten Sonetten bekämpfte er als junger Mann seinen Liebesschmerz. In späteren Jahren lernte er unfreiwillig die Wirkung von Opiumgaben schätzen. Als ihn ein Verwandter mit der Pistole niederschoss, musste Verne sich einer langwierigen Behandlung der schlecht heilenden Wunde unterziehen, was immer wieder Krankenhausaufenthalte mit sich brachte.
A la Morphine
Prends, s’il le faut, docteur, les ailes de Mercure
Pour m’apporter plus tôt ton baume précieux!
Le moment est venu de faire la piqûre
Qui, de ce lit d’enfer, m’enlève vers les cieux.
Merci, docteur, merci ! qu’importe que la cure
Maintenant se prolonge en des jours ennuyeux!
Le divin baume est là, si divin qu’Epicure
Aurait dû l’inventer pour l’usage des Dieux!
Je le sens qui circule, qui me pénètre!
De l’esprit et du corps ineffable bien-être,
C’est le calme absolu dans la sérénité.
Ah! perce-moi cent fois de ton aiguille fine
Et je te bénirai cent fois, Sainte Morphine,
Dont Esculape eût fait une Divinité.
Lob des Morphiums
Oh, eile, Arzt, und leg Dir, wenn es sein muss, Flügel an,
Weil ich nicht ohne jenes Glücksgift leben kann.
Die Zeit ist reif: Oh setze mir die Wunderspritze!
Dass ich aus diesem Höllenbett entschwebe in die Himmelsspitze!
Ja, Danke, Doktor! Denn Du bist mein Retter,
Auch wenn die Wundheilung sich nun ein wenig
In die Länge zieht, der Zaubertrank ist hier und ich bin König,
Mehr noch, es ist ein Balsam zum Gebrauch der Götter!
Ich spüre, wie es zirkuliert und wie es mich durchdringt
Und Geist und Körper Glück und Wonne bringt.
Ich fühle nichts als Heiterkeit durchtränkt vom Seelenadel
Tiefer Ruhe. Durchbohr mich hundertmal, Du feine Nadel,
Ich will Dich hundert Male segnen, seliges Morphin!
Du bist die Göttin selbst, die Heilige der Medizin!
Die Kenntnis von Jules Verne’s lyrischem Schaffen verdanke ich der Lektüre des spannenden und überaus faktenreichen Buchs von Ralf Junkerjürgen: „Jules Verne“, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, wbg Theiss 2018, 272 Seiten, ISBN-10 3806237468.