»Verpassen Sie nicht Ihren einzigartigen Frühlingsmorgen!« (01.03.24)
»Ne manquez pas votre unique matinée de printemps!« lautet ein in Frankreich zum geflügelten Wort gewordener Satz des Philosophen und Musikenthusiasten Vladimir Jankélévitch.
Jankélévitch stammte aus einer in Odessa ansässigen Familie von Musikern und Intellektuellen. Die Eltern des Philosophen wanderten am Ende des 19. Jahrhunderts nach Frankreich aus. Ihr Sohn Vladimir kam 1903 in Bourges in Mittelfrankreich zur Welt, studierte Philosophie, wurde in der Zeit der deutschen Besatzung als Immigrant und als Jude verfolgt, kämpfte im Untergrund gegen das Vichy-Regime und lehrte danach bis zu seiner Emeritierung 1979 als Professor an der Sorbonne in Paris. Dort starb er 1985.
Die Philosophie Jankélévitchs behandelt kaum abstrakte Begrifflichkeiten, sondern greift »mitten ins Leben«. Sie lotet Gefühls- und Konfliktlagen aus, die jeder kennt: Von der Angst vor dem Tod über Sehnsucht, Nostalgie, Vergebung, Langeweile, Trauer, Freude, Gerechtigkeit, Dankbarkeit, Freundschaft u.a. Es sind Wanderungen und Wandlungen des Bewusstseins, die wir erleben, ähnlich, so Jankélévitch, den Abenteuern, die Odysseus auf der Heimreise aus dem Krieg nach Ithaka erlebt.
Im Grunde genommen, sagt Jankélévitch, wissen wir Menschen nie so genau, wo wir eigentlich hingehören oder hinwollen. Manchmal stellt sich das Gefühl ein, dass es früher besser war, was aber bei genauerem Zusehn meist gar nicht stimmt. Die verführerische Krankheit der Nostalgie hat uns am Wickel. Wie also sollen wir unser Leben angehen? Jankélévitch gehört nicht zu den Philosophen, die solche Fragen mit einem beiläufigen Schulterzucken beantworten. Er traut sich einen Rat zu. Es ist kein Rat zur Vorsicht, zum Abwarten. Es ist auch kein christlicher Rat: Die Grundannahme ist, dass das Leben nie eine gebahnte Straße ist und auch nicht sein kann, schon gar kein Heimweg ins ewige Himmelsglück.
Jankélévitch rät zur Tat. Durch sie wird man zu dem, der man sein will: Leben ist eine Abfolge von – oft unerwarteten – Augenblicken, kleinen Hindernissen, katastrophalen Abstürzen, plötzlichen Einsichten, Irrtümern, vieldeutigem Schimmern. Wir sind immer auf Reisen, oft auf ödem Meer, ohne die Chance, irgendwie einzugreifen. Und dann sind da eben auch die plötzlich aufleuchtenden Augenblicke, in denen wir das Ufer sehen, Momente des Frühlingserwachens, die uns herausfordern und wir spüren: Wir haben nichts als diese eine Gelegenheit, das Richtige zu tun und zwar, egal, wie alt wir sind, »mit einem Herzen von zwanzig Jahren und einer Unschuld von acht Uhr morgens …
Das ist die Stunde! Nur ein bißchen später, und es ist zu spät, diese Gelegenheit gibt es nur und genau in diesem Augenblick. Der Wind erhebt sich, jetzt oder nie! Verlieren Sie nicht Ihre einzige Chance bis in alle Ewigkeit! Verpassen Sie nicht Ihren einzigen Frühlingsmorgen! …«
Ein leider bisher nicht ins Deutsche übersetzter kompakter Band der französischen Philosophin und Psychonanalytikerin Cynthia Fleury gibt einen guten Einblick in Leben und Werk von Vladimir Jankélévitch: Cynthia Fleury: Un été avec Jankélévitch. 2. Aufl. Paris: Équateurs 2023. 188 S.