Fürchtet Euch nicht! (01.05.20)
I. Letzte Lockerung
Vor hundert Jahren schrieb Walter Serner (1889–1942) sein dadaistisches Manifest »Letzte Lockerung«. Darin heißt es:
»Krieg! C’est la guerre! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften! Nur hereinspaziert! … Die Leute rennen durcheinander, verwirrt, erschreckt, entsetzt. Wo ist ein Halt? Ein Punkt? Ein Zweck? Ein Sinn? … Sie wissen eben nicht, die lieben Leute, wozu sie eigentlich da sind, was war und werden soll …«
II. Furcht und Verwirrung
Nein, wir sind nicht im Krieg. Auch wenn der französische Präsident Macron es so nannte. Aber die Verwirrung in den Regierungen und in der Bevölkerung ist fast so groß, als wären wir im Krieg. Auch wenn es Lockerungen gibt: Gelockert zu sein scheinen vor allem die Verbindungen zwischen dem gesunden Menschenverstand und den staatlichen Anordnungen. Es geht ständig um Leben und Tod, sagt man. Keine Sekunde dürfen wir uns sicher fühlen. Auf jeder Ladentheke lauert der Feind. Tag für Tag, Stunde um Stunde! Seid wachsam! Achtet auf Eure Nachbarn! Legt Gesichtsschleier an, Bürgersleute! Nikab-Verbot war gestern. Macht Euch locker, Landsleute! Kauft Autos!
Die wirren und widersprüchlichen Parolen des Tages sind aus Angst gemacht. Man könnte glauben, irgendwo in einem unterirdischen Kontrollraum sitzt ein wahnsinniger Dr. No und hat seine teuflische Freude daran, die Puppen tanzen zu lassen. Kein Wunder, dass Verschwörungstheorien die Runde machen. Und wir? Folgen den Anordnungen der Behörden. So sonderbar sie auch klingen, wir trauen uns nicht zu widersprechen, weil natürlich jeder denkt: Und wenn es mich dann doch trifft?
Nein, es gibt keine Lebensgarantie. Es hat sie noch nie gegeben. Der harte Griff der Krankheit ist auf beiden Seiten des Augenblicks zu spüren, der das Ende des Lebens von der Ewigkeit trennt, schrieb der amerikanische Arzt und Bio-Ethiker Gregory Eastwood. Leben und Tod und dazwischen die Intensivmedizin mit ihren Beatmungsgeräten.
III. Das Leben
Im Jahr 1955 sagte der Dichter Gottfried Benn, der in zwei Weltkriegen als Militärarzt gedient hatte und viele Leben verlöschen sah:
»Seit langem begann ich darüber nachzudenken, wie seltsam es sei, dass dieser Begriff des Lebens der höchste Begriff unserer Bewusstseins- und Gewissenslage geworden ist. … Ist es ein Residuum des biologischen neunzehnten Jahrhunderts, das das heutige Europa verpflichtet, um jedes Leben zu kämpfen, auch um seine armseligste Frist, um jede Stunde mit Spritzen und Sauerstoffgebläse …?«
Und weiter konstatiert er, dass es Kulturen gegeben habe, in denen der Bestand der Gesellschaft als ganzer im Vordergrund stand und dem individuellen, biologischen Leben kein so fragloser Vorrang eingeräumt wurde:
»Nur bei uns … ist es der Ordnungs- und Grundbegriff geworden, vor dem alles haltmachte, der Abgrund, in den sich alles trotz sonstiger Wertverwahrlosung blindlings hinabwirft, sich beieinander findet und ergriffen schweigt.«
IV. Die Gesundheit
Der 1952 geborene französische Philosoph André Comte-Sponville sagte kürzlich in einem Interview mit dem Radiosender France-Inter:
»Als Erstes sollten wir daran denken, dass die große Mehrheit von uns nicht am Coronavirus sterben wird. Ich war sehr betroffen von dieser kollektiven Angst-Attacke, die zuerst die Medien erfasste, aber auch die Bevölkerung, als ob jetzt plötzlich als wissenschaftlicher Knüller rausgekommen wäre, dass wir Menschen sterblich sind. Aber das ist kein Knüller. Wir waren vor dem Coronavirus sterblich, wir werden auch danach sterblich sein.«
Comte-Sponville hat ohne Frage Recht. Es wird immer zu viel gestorben. Zum Beispiel sterben in Deutschland Monat für Monat fast 20.000 Menschen an Krebs und über 700 nehmen sich jeden Monat das Leben. Es gibt aber weder einen »Suizid-Ticker« noch eine »Krebs-Uhr« in den Tageszeitungen. Auf der Webseite des Statistischen Bundesamts liest man:
»Im Jahr 2017 verstarben in Deutschland insgesamt 932 272 Menschen. … Damit ist die Zahl der Todesfälle gegenüber dem Vorjahr um 2,3 % (also etwa 20.000 Menschen) gestiegen … Die häufigste Todesursache im Jahr 2017 war, wie schon in den Vorjahren, eine Herz-/Kreislauferkrankung. 37,0 % aller Sterbefälle waren darauf zurückzuführen … Zweithäufigste Todesursache waren die Krebserkrankungen: 227.590 Menschen (erlagen) … im Jahr 2017 einem Krebsleiden. 4,3 % aller Todesfälle waren auf eine nicht natürliche Todesursache wie zum Beispiel eine Verletzung oder Vergiftung zurückzuführen (39 853 Sterbefälle). In 14 677 Fällen … war ein Sturz die Ursache für den Tod. Durch einen Suizid beendeten 9. 235 Menschen ihr Leben.«
»Man stirbt nicht, weil man krank ist, man stirbt, weil man lebt«, sagte Montaigne. André Comte-Sponville wurde auch danach gefragt, ob man denn nicht die ältere Generation durch Ausgangssperren schützen müsse. Er sagte, er befolge die vom Präsidenten angeordneten Ausgangsverbote, aber er mache sich viel mehr Sorgen um die Zukunft seiner Kinder als um seine Gesundheit als 70-jähriger.
»Es liegt auf der Hand, dass wir verhindern mussten, dass unsere Intensivstationen völlig überlastet werden. Und doch, … es gibt in der Gesellschaft schon lange die Tendenz, die Gesundheit zum obersten Wert zu machen. Aber für mich ist sie nicht der oberste Wert. Freiheit, Gerechtigkeit und Liebe sind für mich die wichtigsten Werte.«
V. Furcht öffnet der Seuche Tür und Tor
Dass Angst kein guter Ratgeber ist, wissen wir längst. Sie ist selbst eine Seuche und macht alles schlimmer. »Fürchte Dich nicht vor der Pest« heißt ein Sonett aus der Feder von Johannes Plavius (1600–1630). Er schrieb im 30-jährigen Krieg. Der aus Thüringen stammende Dichter und Philosoph schöpfte seine Kraft aus einer Erfahrung der Schwäche gegenüber den Gewalten der Natur. Zu diesen Gewalten zählte er auch die Krankheiten, die wahllos und mit auffallender Ungerechtigkeit Leben zerstörten. Hoffnung konnte auf die offenkundige Schwäche körperlicher Existenz nicht gut gegründet werden. Und so hatte es seine Logik, das körperliche Leben zu verachten und stattdessen das Leben der Seele zu preisen, die mit Gottes Hilfe unsterblich war. Gottesfurcht erspart dem Christen die Furcht vor den Menschen und die Furcht vor dem Tod. Die Angst dagegen, wenn man ihr nichts entgegenzusetzen hat als Desinfektionsmittel, macht uns alle verrückt. Auch die Regierenden heute, sie sind ja ebenfalls Menschen und von Unwissenheit beherrscht, die Virologen nicht ausgeschlossen. Das klarste Zeichen dafür ist, dass sie keine klaren Worte sprechen und widersprüchliche, ja gefährliche Anordnungen treffen: Kontaktsperre und Herdenimmunität – wie soll das zusammengehen? Abgesehen davon, dass es der Herde wenig frommt, von verwirrten Hirten hin- und hergetrieben zu werden. Schüler, Studenten, Auszubildende, Referendare (alle kaum gefährdet durch das Virus): Erst macht man die Ausbildungsstätten – im Interesse der Älteren (!) – zu, dann unter praktisch unerfüllbaren Auflagen hier und da wieder auf, anderswo aber nicht, Ungleichheiten ohne Ende also, die Prüfungen sollen aber alle ablegen, als wäre nichts geschehen. Warum erlässt man sie ihnen nicht für dies Mal? Interessant fand ich auch das Scharmützel um die Raucher: Die einen sagen, Raucher seien besonders gefährdet, andere, Raucher seien besser geschützt als andere. Und worum geht es überhaupt? Soll das Leben desinfiziert werden? Wollen wir eine laborreine Existenz erreichen? Und unsere Daten – das Blut der Informationsgesellschaft, an dem die Institute der medizinischen und politischen Hygiene ihr Wohlgefallen haben – am liebsten freiwillig den zuständigen Stellen (den Hirten der Herde) übermitteln, die uns dann wissen lassen, von wann bis wann wir Ausgang haben und mit wem wir uns treffen dürfen? Noch nennt man es »Datenspende«. Kommt die Stunde des täglichen Datenopfers?
VI. Survivre n’est pas vivre
Spaß beiseite. Worum es im Ernst gehen muss, ist ein gutes Leben. Was ist das? Es ist das, was das deutsche Grundgesetz als ein Leben in Würde ansieht. »Menschenwürde« ist der Begriff seit Pico della Mirandola (1463–1494): Freiheit ist das Wichtigste, Bildung, Handwerk, Kultur, schöpferischer Geist, Liebe, Spiel, Handel, die Tugenden, Mitmenschlichkeit, Gerechtigkeit, etwas mit seinem Leben anfangen können, ihm einen Sinn geben außerhalb der biologischen Existenz, die wir mit den Bakterien und den Pilzen, den Schlangen und den Mücken teilen. Das Gesundheitssystem ist dabei nur eines von vielen Systemen, die alle lebendig sein müssen, damit wir in Würde leben können. Der Bundestagspräsident Schäuble hat nach einem Pressebericht vom 26. April »davor gewarnt, dem Schutz von Leben alles unterzuordnen. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gäbe, dann sei das die Würde des Menschen.« Schäuble ist damit gar nicht so weit entfernt von jenem Wahlspruch der 68er-Zeit, der damals auf vielen Mauern in Paris stand: Survivre n’est pas vivre – Überleben ist kein Leben. Im Gegenteil. Wie man lebt und wofür man lebt ist wichtig. Sei es der christliche Gott oder sei es die Menschenwürde – so weit auseinander liegt das ja nicht.