Nutzen wir die Krise für politische Kreativität und Visionen! (15.04.20)
Gastbeitrag von Paula Scholemann
Edgar Morin ist ein 92 Jahre alter Philosoph aus Frankreich. Mit zehn Jahren verlor er, ein Einzelkind, seine Mutter. Mit 21 schloss er sich der Widerstands-Bewegung gegen die Nazis an – als Nachkomme sephardischer Juden und Pazifist.
Eines seiner Themen ist die Krise. Die Krise versteht Morin als eine Störung des laufenden Betriebes. Das System ist überfordert und kann das plötzliche Überangebot an Problemen nicht beseitigen oder verarbeiten. Es kommt zu einer Blockade. Was sich zuvor bewegte, liegt jetzt lahm. Die Bilder dazu haben wir derzeit vor Augen: ein überfordertes System.
Die Krise als Störung bewirkt noch mehr, sagt Edgar Morin. Wir erkennen jetzt Probleme, die das System bereits hatte. Was zuvor unbemerkt geschah, wird sichtbar und so rückt die Krise Altes in neues Licht. Was zuvor lahm lag, bewegt sich nun. Das System ist eben doch nicht komplett blockiert, sondern die Energie findet neue Wege. Und je länger die Krise dauert, umso radikaler sind die Neuerungen.
„Es gibt also, in jeder Krise, eine Freisetzung intellektueller Aktivitäten durch das Stellen einer Diagnose, durch die Korrektur unzureichenden und falschen Wissens, durch Widerspruch gegen eine etablierte oder gar heilige Ordnung, durch Innovation und Schöpfung.“ (Edgar Morin: „Pour une crisologie“ (Communications 1976) eigene Übersetzung).
Wie gelingt es angesichts der aktuellen Erlebnisse, die Krise als Chance zu begreifen? Edgar Morin versteht sich als Konstruktivist: Wir Menschen konstruieren mit unseren geistigen Fähigkeiten die Welt. Und so nimmt er Stellung: für Frieden im Nahen Osten, für die Aufnahme von Whistle-Blowern in Frankreich und für einen Wechsel des Wirtschaftssystems.
Anfang 2020 wurde der Essay „Pour une crisologie“ mit anderen Texten von Edgar Morin unter dem Titel „Sur la crise“ bei dem Verlag champs essais neu veröffentlicht. Beim Lesen des kleinen Buches wurde mir klar: Jetzt, in der Krise, ist der Moment für Neuanfänge. Jetzt ist der Moment, in dem wir mit politischer Kreativität Visionen entwickeln können und sollten.
Wenn die Krise Lücken und Fehler sichtbar macht, ist das ein optimaler Ausgangspunkt, um kreativ an diese Probleme heranzugehen. Die Krise präsentiert uns dringliche Fragen und konfrontiert uns mit unserem Unwissen und der Denkträgheit, die wir uns geleistet haben. Um darauf zu antworten, entwickeln wir viele mögliche Lösungsansätze, probieren sie aus und hoffen, dass etwas funktioniert. Dass diese Lösungen erstmal nur vorläufig sein können, stört uns gar nicht. Es ist sogar selbstverständlich, dass die jetzt eingeführten Maßnahmen provisorisch sind und nur probeweise stattfinden. Genau diese Haltung, dass nämlich Lösungen zunächst vorläufig sind, ist für Kreativität goldrichtig. Wir sollten aus der Krise in den bald kommenden Alltag mitnehmen, dass es gut ist, neue Ideen als vorläufige Projekte auszuprobieren.
Für jedes kreative politische Projekt brauchen wir Visionen. Wie soll unsere Gesellschaft in fünf, zehn oder 20 Jahren aussehen? Visionen lassen sich gut entwickeln, wenn man Zeit und Ruhe hat. Da die Krise derzeit vieles lahmlegt, haben viele von uns die Zeit.
Was für ein Gesundheitssystem wollen wir eigentlich haben? Müssen Krankenhäuser und Altersheime Profite machen? Wenn wir über derlei Fragen nachdenken, können wir Visionen für neue politische Projekte entwickeln, sie gedanklich durchspielen und miteinander diskutieren – jetzt in der Krise und darüber hinaus.
Politische Kreativität bedeutet, dass man einen Neuanfang macht. Das ist schwer, weil es ein Abweichen von der Normalität bedeutet. Dank der Krise gibt es die Normalität derzeit nicht, wir befinden uns in einem Ausnahmezustand. Darum dürfte es jetzt leichter fallen, von der alten Normalität abzuweichen und einen Neuanfang zu machen. Das ist der Moment für neue politische Projekte.
So hat Richard Susskind dazu aufgerufen, die Art, wie wir arbeiten zu überdenken: „Telemedizin, Online-Justiz und Online-Learning sind in diesen Wochen nicht nur möglich, sondern notwendig geworden.“ Wenn wir sehen, ob und inwieweit es funktioniert, wäre es fahrlässig, alles beim Alten zu belassen.
Ein anderes Beispiel ist das Bedingungslose Grundeinkommen. Viele Menschen halten es grundsätzlich für unrealistisch und haben Bedenken bezüglich der Auswirkungen. Derzeit befürworten aber immer mehr Menschen, dass vom Staat eine monatliche Zahlung in Höhe von etwa 1.000 Euro an alle fließt. Es wäre ein Schutz vor Verarmung und würde verhindern, dass der Konsum einbricht. Die Krise könnte eine Chance sein, dieses politische Projekt auszuprobieren und Erfahrungen damit zu sammeln.
Nutzen wir die Krise, um kreative Visionen zu entwickeln und unsere Zukunft zu gestalten!
Am 30. März dieses Jahres schrieb Edgar Morin in der Zeitung „Libération“:
„Mehr denn je fühle ich mich am unsicheren und ungewissen Abenteuer unserer Gattung teilnehmen. Mehr denn je fühle ich das gemeinsame Schicksal der Menschheit.“
Dr. rer. pol. Paula Scholemann lebt als Autorin und Beraterin in Montalivet (Nouvelle-Aquitaine), wo sie ein Büro für Kreativität, Didaktik und Politik betreibt. Zuletzt erschienen: „Kreativität und Visionen bei politischen Projekten – Ein Transfer aus der Kreativitätsforschung in die Politische Theorie“ (Springer VS März 2020).