Die Wahrheit und wie man sie garantiert verfehlt. Gastbeitrag von Christoph Martin Wieland (01.06.22)
Jede Menge erbitterter Streit. Egal, worum es geht: Um Krieg und Frieden, um die Seuche oder auch nur um die Frage, wer die Schuld für den Niedergang des deutschen PEN-Zentrums trägt: Man streitet mit Inbrunst und Überzeugung. Und natürlich beruft sich jeder der Streitenden darauf, die Wahrheit allein auf seiner Seite zu haben. Dabei ist die Wahrheit ein kapriziöses Wesen, das sich weder erobern noch gar pachten lässt, wie Christoph Martin Wieland bereits vor über 200 Jahren herausfand.
»Die Wahrheit (wenn wir noch einen Augenblick mit dem Gleichniß spielen dürfen) flieht vor der keuchenden Verfolgung ihrer feurigsten Liebhaber, um in die Arme dessen zu laufen, der sie weder erwartete, noch suchte. Der einfältigste Menschensinn findet sie am ersten und genießt ihrer, wie der Luft, die er athmet, ohne daran zu denken. Der Grübler, der sie überall sucht, findet sie nirgends, just darum, weil er sich nicht einbilden kann, daß sie ihm so nahe sey. Und sobald ihrer Zwei sich über ihren ausschließenden Besitz in die Haare gerathen, so darf man sicher rechnen, daß sie es ihnen macht, wie Angelika den beiden Rittern im Ariost: während die tapfern Männer sich bei den Köpfen haben, geht die Dame davon und lacht über beide.
Ist dieß Bild zu komisch? – Nun, so ist hier ein anderes, das eben so gut zur Sache paßt. Die Wahrheit ist weder hier, noch da, – sie ist, wie die Gottheit und das Licht, worin sie wohnt, allenthalben: ihr Tempel ist die Natur, und wer nur fühlen und seine Gefühle zu Gedanken erhöhen und seine Gedanken in ein Ganzes zusammen fassen und ertönen lassen kann, ist ihr Priester, ihr Zeuge, ihr Organ. Keinem offenbart sie sich ganz; Jeder sieht sie nur stückweise, nur von hinten oder nur den Saum ihres Gewandes – aus einem andern Punkt, in einem andern Lichte; Jeder vernimmt nur einige Laute ihres Göttermundes, Keiner die nämlichen –
Und was haben wir also zu thun?
Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sey? wer sie besitze? wer sie in ihrem schönsten Lichte gesehen? die meisten und deutlichsten Laute von ihr vernommen habe? – lasset uns in Frieden zusammen gehen oder, wenn wir des Gehens genug haben, unter den nächsten Baum uns hinsetzen und einander offenherzig und unbefangen erzählen, was jeder von ihr gesehen und gehört hat oder gesehen zu haben glaubt, und ja nicht böse darüber werden, wenn sich’s von ungefähr entdeckt, daß wir falsch gesehen oder gehört oder gar (wie es brünstigen Liebhabern, die ihr zu nahe kommen wollen, öfters begegnet) eine Wolke für die Göttin umarmt haben.
Vor Allem aber, liebe Brüder, hüten wir uns vor der Thorheit, unsere Meinungen für Axiome und unumstößliche Wahrheiten anzusehen und Andern als solche vorzutragen. Es ist ein widerlicher, harter Ton um den Ton der Unfehlbarkeit; aber es gibt einen, der noch unausstehlicher ist – der Ton eines Energumenen (Besessenen), der, auf dem heiligen Dreifuße sitzend, alle seine Reden als Göttersprüche von sich gibt. – Bescheidenheit würde uns vor dem Einen und vor dem Andern sicher stellen.«
Das wundervolle Buch, aus dem ich diese kurze Passage entnommen habe, bekam ich vor wenigen Tagen geschenkt. Es trägt den Titel: »Ein paar Goldkörner oder Was ist Aufklärung?« und versammelt eine Reihe von Aufsätzen aus der Feder von Christoph Martin Wieland (1733–1813), sinnreich ausgewählt und freundlich kommentiert von Hans-Peter Nowitzki und Jan Philipp Reemtsma. Wallstein-Verlag 2022, 321 Seiten, 30,00 Euro.