Noch einmal: Goethe und die guten Sitten – im Anschluss an den Beitrag vom 1. August 2019 (26.8.19)
Im Rahmen eines markenrechtlichen Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof sah sich der Generalanwalt Michael Bobek kürzlich dankenswerterweise zu einigen ebenso hintergründigen wie zutreffenden Bemerkungen veranlasst; sie betrafen die Reaktionen des deutschen Lesepublikums auf die Erstveröffentlichung des Werther-Romans von Johann Wolfgang von Goethe. In diesen Zusammenhang gehört das hier etwas näher erläuterte Goethe-Gedicht, das manchmal als »Freuden des jungen Werthers« bezeichnet wird.
Nicolai auf Werthers Grab
Ein junger Mensch ich weiß nicht wie,
Starb einst an der Hypochondrie
Und ward dann auch begraben.
Da kam ein schöner Geist herbei
Der hatte seinen Stuhlgang frei,
Wie ihn so Leute haben.
Der setzt sich nieder auf das Grab,
Und legt ein reinlich Häuflein ab,
Schaut mit Behagen seinen Dreck,
Geht wohl erathmend wieder weg,
Und spricht zu sich bedächtiglich:
»Der arme Mensch, er dauert mich
Wie hat er sich verdorben!
Hätt’ er geschissen so wie ich,
Er wäre nicht gestorben!«
Auf Anhieb könnte man denken, Goethe habe mit diesem derben Gedicht sich selbst und seinen »Werther« auf die Schippe genommen. Vielleicht ist da sogar ein Fünkchen Wahrheit drin – aber die eigentliche Geschichte der Zeilen ist eine andere: Im September 1774 war Goethes Briefroman »Die Leiden des jungen Werthers« erschienen. Das Buch, in dem sich ein angehender Jurist in einer Dreiecksbeziehung verirrt und schließlich Selbstmord begeht, war ein unglaublicher Erfolg. »Da sitz’ ich mit zerflossnem Herzen, mit klopfender Brust und mit Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfelt …« schrieb ein Rezensent und traf damit das Gefühl des jungen Lesepublikums, das sich der Wonne des Mitleidens wesentlich hemmungsloser hingab, als Goethe es erwartet haben kann. Die Zahl der Selbsttötungen unter jungen Lesern soll nicht ganz gering gewesen sein.
Kein Wunder, dass besorgte Bildungsbürger versuchten, die melancholischen Neigungen der Jugend Goethe in die Schuhe zu schieben. Die theologische Fakultät in Leipzig stellte Zensurantrag, denn Goethe mache »üble Impressiones … zumal bei Weibspersonen«.
Der bekannteste und wohl auch intelligenteste Kritiker des Romans war der Berliner Intellektuelle Friedrich Nicolai. Er schrieb eine Gegenerzählung mit dem Titel »Freuden des jungen Werthers«. Darin ist die Pistole, die Werther auf sich richtet, mit Kälberblut gefüllt, so dass der Unglückliche sich nicht tötet, sondern nur bekleckert. Anschließend lösen die drei Protagonisten Lotte, Albert und Werther ihre Konflikte nicht in Gefühlsausbrüchen, sondern, gutbürgerlich, mit Vernunft. Die Quintessenz: Ein bißchen angewandte »Erfahrung und kalte gelaßne Überlegung …«, und siehe da, schon wird aus jeder Tragödie eine win-win-Situation: Lotte und Werther heiraten, Albert macht den altruistischen Konfliktberater und Werther lächelt: »Denn Lotte und seine acht Kinder, die besten Gaben, die ihm Gott gegeben hat, liegen neben ihm und fühlen gesellig, was er fühlt.«
Als Antwort auf diesen im Gewand der Vernunft daherkommenden Beschwichtigungs-Kitsch schreibt Goethe das Schmäh-Gedicht »Nicolai auf Werthers Grab«. Einen Verbotsprozess gibt es, fast möchte man sagen: leider, nicht. Goethes Verleger Heinrich Christian Boie bezeichnet das Gedicht als »unverdauten (!) Einfall« und lässt es erst mal ungedruckt. Nicolai erfährt erst mehr als ein Jahrzehnt später davon. Heute ist das Gedicht einer der bekanntesten Geheimtipps von Deutschlehrern.