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Goethe und die guten Sitten vor Gericht (1.8.19)

»Man wird schwerlich behaupten können, dass die Werke Johann Wolfgang von Goethes bei ihrer Veröffentlichung allgemeine Anerkennung gefunden hätten. Zwar gab es sofort begeisterte Bewunderer, es gab aber auch heftige Kritik und Ablehnung. Insbesondere das Werk ›Die Leiden des jungen Werthers‹ wurde in mehreren deutschen Ländern und darüber hinaus verboten. So heißt es in einem Schreiben der dänischen Kanzlei an den dänischen König …, das Buch sei ein Werk, das ›die Religion verspottet, die Laster beschönigt und die guten Sitten verderben kann‹«.

Mit diesen ohne Zweifel zutreffenden Bemerkungen über die Resonanz auf Goethes ›Werther‹ beginnt ein vor wenigen Wochen vom Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) ins Netz gestellter amtlicher Text mit dem Titel: »SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS MICHAL BOBEK vom 2. Juli 2019(1) Rechtssache C‑240/18 P Constantin Film Produktion GmbH gegen Amt der Europäischen Union für geistiges Eigentum (EUIPO)«.

Michal Bobek, Autor des Textes, ist ein allem Anschein nach brillanter, mit literarischer Bildung und feinen Humor gesegneter tschechischer Jurist in den Diensten des EuGH. »Generalanwalt« ist seine Amtsbezeichnung. Die Generalanwälte beim EuGH sind hohe Beamte, allerdings keine Richter. Ihre Aufgabe ist es, die Entscheidungen der Richter vorzubereiten. Sie arbeiten Rechtsgutachten aus, denen das Gericht später meist folgt.

Worum ging es in Bobeks Gutachten? Kurz gesagt: Um die guten Sitten. Und die öffentliche Ordnung. Und ob die Worte »Fack Ju Göhte« dagegen verstoßen. Die Constantin Film Produktion GmbH wollte den Spielfilmerfolg der drei »Fack-Ju«- Streifen auch außerhalb der Kinos vermarkten. Und vermarkten kann man am besten mit einer »Marke«. Also beantragte Constantin Film die Eintragung der Wortfolge »Fack Ju Göhte« als europäische Marke für Kleidung, Nachrungsmittel etc. Zuständig für europäische Marken ist das Europäische Amt für geistiges Eigentum (EUIPO) in Alicante. Und das EUIPO wies die Anmeldung zurück. Begründung: Das Wortzeichen »Fack Ju Göhte« verstoße gegen die guten Sitten und die öffentliche Ordnung. Die deutschsprachigen Verbraucher würden die Aussprache des Wortbestandteils »Fack Ju« so wahrnehmen, als sei er identisch mit dem englischen Ausdruck »fuck you«, und was das bedeute, sei sittenwidrig. Der Ausdruck »fuck you« sei aber auch abgesehen von der sexuellen Komponente eine anstößige und vulgäre Beleidigung. Dass sich Schüler heute nicht mehr daran störten, habe keine Bedeutung. Es könne bei den guten Sitten nicht darauf ankommen, was Menschen empfinden, die sich an gar nichts stören. Der Name »Göhte« mache das Ganze nicht besser, sondern schlimmer. Es gehe nicht an, einen so hochangesehenen Schriftsteller posthum und in fehlerhafer Rechtschreibung zu verunglimpfen. Kurz gesagt: Das Wort »Fuck« im Zusammenhang mit Goethe ist nach Meinung der Markenschützer eine Schweinerei, auch wenn es nur Juristen merken.

Damit konnte sich der Generalanwalt Michal Bobek nicht anfreunden. Er beginnt mit feinsinnigen Betrachtungen über den Unterschied zwischen den Rechtsbegriffen »öffentliche Ordnung« (Summe der geschriebenen Regeln) und »gute Sitten« (Summe aller ethischen Normen einschließlich informeller Regeln). Nachdem die juristischen Spinnfäden ordentlich sortiert sind, wird es dann wirklich interessant. Bobek sagt nämich: Was »gute Sitten« sind, kann man nicht bestimmen, ohne die tatsächlich gelebten sittlichen Regeln zu studieren. Das Gericht muss sich auf die gesellschaftlichen Tatsachen einlassen. Sprache ist ein Mittel der Verständigung zwischen Menschen. Was ein Wort bedeutet, ob es beleidigend oder anstößg ist, kommt auf den Kontext an, aus dem heraus und in den hinein es gesprochen ist. Wenn also in den deutschsprachigen Ländern seit 2013 inzwischen drei Filme mit diesem Titel gelaufen sind, ohne dass irgend eine staatliche oder gesellschaftliche Institution die Sittenwidrigkeit des Titels geltend gemacht hat, wenn ferner das Goethe Institut den Film in sein Programm aufgenommen hat, dann ist die Beurteilung, der Titel verstoße gegen die guten Sitten, schlichtweg unhaltbar. Ansonsten, so dürfen wir hinzufügen, würde man dem englischen Philosophen Jeremy Bentham doch noch Recht geben, der gesagt hat: Jurisprudenz ist die Kunst, das mit Methode zu bestreiten, was für jedermann auf der Hand liegt.

Wie geht es weiter? Mit den Schlussanträgen des Generalanwalts Bobek ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Aber die Entscheidung des Gerichtshofs wird nicht lang auf sich warten lassen. Auf jeden Fall ist das zutreffend, was Generalanwalt Bobek in den Schlussanträgen festgehalten hat: »Es entbehrt nicht einer gewissen historischen Ironie, dass mehr als 200 Jahre später (nach dem Verbot des Werther wegen Verstoßes gegen die guten Sitten) eine Abwandlung des Namens ›Goethe‹ … als eine Gefahr für die guten Sitten gilt.«

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