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Über meiner Mütze nur die Sterne – Goethes West-Östlicher Divan, neu gelesen

»Nord und West und Süd zersplittern,
Throne bersten, Reiche zittern,
Flüchte du, im reinen Osten
Patriarchenluft zu kosten,
Unter Lieben, Trinken, Singen,
Soll dich Chisers Quell verjüngen.«

Dass die Rettung des Abendlandes durch Patriarchenluft befördert werden soll und dann auch noch aus dem Osten, genauer gesagt: aus dem Orient kommen soll, ist eine der Überraschungen, die Goethe schon ganz am Anfang des »West-Östlichen Divan« bereithält. Diese Gedichtsammlung erschien im Sommer 1819 erstmals im Druck. Wer heute Bilder von den Kriegen in der islamischen Welt vor Augen hat, wer die Drohungen hört, die islamische Politiker gegen das Abendland schleudern, der mag es kaum glauben: In Goethes Gedicht ist der Westen, also das Abendland, das Haus des Krieges. Der (islamische) Osten ist dagegen als Welt des Friedens gesehen, einer Welt voller Rosen und Wohlgerüche, voll süßen Weins und lieblichen Gesprächs. Da herrscht ein großer und geheimnisvoller islamischer Heiliger. Goethe nennt ihn »Chiser«, arabisch heißt er heute »Al-Chidir«, türkisch »Hizir«: Er ist nach islamischem Verständnis ein Symbol für die Kraft der Natur, Stellvertreter Allahs, Hüter des Lebensquells, des Jungbrunnens, also auch des fröhlichen, unbeschwerten Genießens – so sieht es Goethe.

Und feiert den heiligen Chiser gleich zu Beginn des West-Östlichen Divan mit einem Gedicht. Gefeiert wird dort auch die islamische Religion – und ausgerechnet das, was uns heute so besonders stört am Islam, nämlich die für aufgeklärte europäische Gemüter so schwer zu ertragende Gedankenenge, der Verzicht auf abendländisches Kopfzerbrechen und die kritiklose Unterwerfung unter die religiösen Gebote – all das, was wir als rückständig empfinden, war für Goethe jedenfalls ein bißchen bewundernswert.

»Dort, im Reinen und im Rechten,
Will ich menschlichen Geschlechten
In des Ursprungs Tiefe dringen,
Wo sie noch von Gott empfingen
Himmelslehr’ in Erdesprachen,
Und sich nicht den Kopf zerbrachen.
Wo sie Väter hoch verehrten,
Jeden fremden Dienst verwehrten;
Will mich freun der Jugendschranke:
Glaube weit, eng der Gedanke,
Wie das Wort so wichtig dort war,
Weil es ein gesprochen Wort war.
Will mich unter Hirten mischen,
An Oasen mich erfrischen,
Wenn mit Caravanen wandle,
Schawl, Caffee und Moschus handle.
Jeden Pfad will ich betreten
Von der Wüste zu den Städten.«

In der deutschen Literatur hat der Islam seit dem 17. Jahrhundert eine Rolle gespielt. Im 19. Jahrhundert übersetzte Friedrich Rückert (1788–1866) nicht nur den Koran ins Deutsche. August von Platen (1796–1835) brachte es in der – aus der islamischen Welt stammenden – Kunst der Ghaselen-Dichtung zur Meisterschaft. Und Goethe war den beiden mit dem »Divan« vorangegangen. Goethe war kein Mohammedaner, wie man das früher nannte, wenn man nicht sogar Muselmann sagte. Goethe war auch weder Islamist noch kirchengläubiger Christ. Er hatte seine eigenen Verträge mit den Göttern. Als er die Gedichte des West-Östlichen Divan schrieb, befasste er sich ausgiebig mit dem Koran, mit orientalischer Geschichte, Religion, Kultur und Poesie des Iran, der Türkei und Arabiens. Er fand vieles sonderbar. Aber, wie fast immer in seinem Leben, interessierte ihn weniger das Schlechte und Falsche, sondern er suchte in allem, was er vorfand, das Schöne, Erfreuliche, Erbauliche, das Konstruktive – Genuss, Wein, Poesie, Erotik. Deshalb liebte er die fremde nhöstliche Poesie, besonders die Gedichte des persischen Dichters Hafis; und deshalb liebte er, als Mann, am Islam auch die Idee der Polygamie und vor allem das Paradies mit den unzähligen jungen Frauen, den Huris.

»Will in Bädern und in Schenken
Heil’ger Hafis dein gedenken,
Wenn den Schleyer Liebchen lüftet,
Schüttelnd Ambralocken düftet.
Ja des Dichters Liebeflüstern
Mache selbst die Huris lüstern.
Wolltet ihr ihm dies beneiden,
Oder etwa gar verleiden;
Wisset nur, daß Dichterworte
Um des Paradieses Pforte
Immer leise klopfend schweben,
Sich erbittend ew’ges Leben.«

»Divan« ist übrigens das arabische Wort für »Sammlung«, man könnte Goethes Buch also auch »West-Östliche Anthologie« nennen. Aber Divan klingt natürlich interessanter. West und Ost sind nicht das einzige Gegensatzpaar, von dem der »West-Östliche Divan« handelt – das Buch handelt auch von Mann und Frau, von Nüchternheit und Betrunkenheit, von Mädchenliebe und Knabenliebe, von Alt und Jung, von den Zwängen des Rechts und der Freiheit der Kunst und, ja, vielleicht von dem Gegensatz überhaupt als einem lebenspendenden Prinzip. Gegensätze sah Goethe nicht als starre Feindschafts-Verhältnisse an, sondern als einander sowohl bekämpfende als auch bedingende, einander ergänzende Kräfte, die das Leben in Bewegung halten, wie das Einatmen und das Ausatmen.

»Im Atemholen sind zweierlei Gnaden:
Die Luft einzuziehn, sich ihrer entladen;
Jenes bedrängt, dieses erfrischt;
So wunderbar ist das Leben gemischt.
Du danke Gott, wenn er dich preßt,
Und dank ihm, wenn er dich wieder entläßt.«

Goethe war nach damaligen, aber auch nach heutigen Begriffen, ein älterer, wenn nicht sogar alter Mann, als er den West-Östlichen Divan schrieb. Mit etwa 65 Jahren begann er damit und fertig wurde er mit knapp 70. Zugleich war er aber auch ein unendlich verliebter Mann. Er begehrte eine 35 Jahre jüngere Frau in Frankfurt. Wir werden noch sehen, wie weit er mit seinem Begehren kam. Das Gefühl, vielleicht doch ein bißchen zu alt zu sein für ein poetisches Wagnis und ein amouröses Abenteuer, scheint ihn des Öfteren beschlichen zu haben. Aber Goethe war nicht der Mann, der sich dem Selbstmitleid hingegeben hätte. Die Regeln bürgerlichen Anstands schob er, wenn es ihm so passte, einfach beiseite, egal was die Leute sagten.

»Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten!
Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!
Und ich reite froh in alle Ferne,
Über meiner Mütze nur die Sterne.«

Er hatte noch einmal den Tiger in sich entdeckt, und so macht er sich Mut und schreibt sich zurück in die Rolle des schwungvollen jungen Reiters, der er mit Anfang 20 schon einmal war, erneut entschlossen die Welt im Sturm zu erobern – Gewitter und Regenbögen können ihn nur beflügeln.

»Wenn zu der Regenwand
Phöbus sich gattet,
Gleich steht ein Bogenrand
Farbig beschattet.

So sollst du, muntrer Greis,
Dich nicht betrüben,
Sind gleich die Haare weiß,
Doch wirst du lieben.«

Für dieses und teilweise auch für das nächste Jahr hatte der Thüringer Literaturrat eine Reihe von Abenden zum »West-Östlichen Divan« vorzubereiten. Mein Teil war es, eine »Divan-Revue« zu schreiben, die in 75 Minuten einen möglichst unterhaltsamen Eindruck vom Divan vermitteln soll. Ich habe zu diesem Zweck Goethes Gedichtbuch etwas näher in Augenschein genommen. Was mir dabei auf-und ein- und zufiel, habe ich, entlang der Reihenfolge der Goethe-Gedichte, aufgeschrieben. Unterstützt und mit zusätzlichen Ideen versorgt hat mich Paula Scholemann. Den so entstandenen Text, einer Art Lese-Journal, hat Catalina Giraldo Vélez (Gato & Mono Design, Weimar) gestaltet und zu einer schönen pdf-Datei gemacht, die ab dem 15. Oktober 2019 online ist. Anhand eines Verzeichnisses der Gedichtanfänge lässt sich zu jedem Divan-Gedicht etwas finden. Hinweise auf Fehler und Irrtümer sind willkommen. Für Anfang nächsten Jahres ist ein Korrekturgang geplant.

Die Termine für die Divan-Revuen mit Anne Kies, Steffen Mensching und mir sind aus dem Veranstaltungskalender dieser Webseite sowie aus der Webseite literaturland-thueringen.de ersichtlich.

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