Gyula Illyés (1.7.19)
immer häufiger sieht man kisten vor häusern stehen, kisten mit irgendwas drin, abgeblätterte gebrauchsschönheiten, herbstliche zuckerdosen oder emeritierte eierbecher, ein alleinstehender stabmixer, ein kraftpaket mit lauter perry-rhodan-heften, kisten, an denen manchmal, als hätte der passant es nicht längst kapiert, ein freundlicher zettel klebt: „zum mitnehmen“. was sich so freundlich andient als wär es ein geschenkangebot, gleichsam als reiche mir jemand ein glas wasser zum löschen des dursts auf der wanderschaft des lebens, ist meist ausdruck des versuchs, sich müllgebühren zu sparen oder den weg zum altpapiercontainer. die geste der ökologischen vernunft und der menschlichen zuwendung: schaut her, man kann auch achtsam mit den dingen sein und gutes dabei tun, verträgt sich bestens mit dem ökonomischen kalkül des wegwerfens auf anderleuts kosten, das man vom mülltourismus an die elfenbeinküste kennt. in jedem fall führt es zur verzögerung einer eigentlich anstehenden vernichtung, was ohne zweifel achtung verdient. und auch sind die kisten den häusern, vor denen sie stehen, ein lebendiger schmuck. häuser mit kisten davor sind schöner als häuser ohne kisten. die kisten sprechen zum passanten. man kann etwas über menschen erfahren, wenn sie öffentlich durch die tat erklären, was sie wegwerfen. es ist viel enttäuschte liebe in den kisten vor den häusern. in meinen jünglingsjahren habe ich das bild eines schafs in einen müllcontainer geworfen, das mir ein mädchen geschenkt hatte. ich wollte das mädchen nicht mehr, aus angst es zu verlieren, und allein mit einem schaf sein wollte ich auch nicht.
aus einer solchen kiste vor dem haus h.-straße 13 stammt wahrscheinlich das buch „durst“. ich fand es auf dem sims des parterre-fensters oberhalb der kiste. jemand muss es schon aus der kiste herausgegriffen, dann aber prominent abgelegt haben. als solle damit gesagt sein: ich kanns zwar nicht brauchen, aber für den müll ist es zu schade. und genauso ist es auch. das buch hat seine vergilbtheiten, als hätte es lange in der sonne gelegen und zum teil als unterlage für bürowerkzeuge gedient oder es stand teilweise im schatten von blattpflanzen, also entweder eine schere oder eine konifere ist dafür verantwortlich, dass der eigentlich cremeweiße umschlag ein sonderbares muster aus stärker und weniger stark vergilbten flächen trägt. das buch heißt „durst“ und man möchte natürlich dringend wissen, was darin steht. das ist leicht gesagt: das buch ist 2002 im budapester corvina-verlag erschienen und enthält eine zweisprachige anthologie ungarischer liebesgedichte, herausgegeben von eva blaschtik. eines der liebesgedichte gebe ich in der fassung wieder, die ich nach der übersetzung von günter kunert halb nachempfunden und halb umgedichtet habe.
weil du mir gegenübersitzt
du sitzt mir gegenüber und ich seh dich gut
nur dass ich mich nicht seh
ich kenn mich kaum und nur von fotos
oder aus dem spiegel
du sitzt mir gegenüber und die
spuren der zeit die seh ich nur an dir
zeitlos wie immer
komm ich mir vor
hätt ich so wie du jetzt bist
und ich damals war
dich damals angesehn
da wär wohl wenig draus geworden
und wenn wir beide uns vor
25 jahren begegnet wären
doch ich genau wie jetzt mein haar so weiß
du hättest dich wohl kaum zu mir dem greis gelegt
wie komisch dass von diesen vielen
möglichkeiten nur diese eine wahr geworden ist
dass wir uns lieben über alles wie keinen sonst
eines das andre du mich ich dich
und wollt ich sicher sein dass dieses
alles wahrheit ist dann müsste ich dich fragen
das tu ich aber nicht ich habe angst vor einer
ganz bestimmten antwort angst wie vor einem schuss
am besten ist es wohl wir bleiben einfach
so sitzen gegenüber einander gegenüber
eng aneinander als müssten wir uns
hüten vor hagelschlag und vor barbaren
so wie wir damals weißt du noch
auf diesem schlitten saßen
du nah an meiner brust im schneesturm
flogen wir dahin in sasd
so fliegen und der durst brennt immer noch
ob du denn hier bist oder in den sternen
ich würde dich wohl bei den sternen suchen
um dich zu finden liebste stern
Das Gedicht stammt von Gyula Illýes (1902-1983). Übersetzt habe ich nach der deutschen Übersetzung von Günter Kunert, der sich in Versmaß und Reimschema offensichtlich an das ungarische Original gehalten hat. Es sind 9 je vierzeilige Strophen. Regelmäßige Jamben, die erste und dritte Zeile jedes Gedichts 6-hebig, die zweite und vierte 4-hebig, Reimschema a b a b.