Hebt die Dachbalken hoch, Zimmerleute! Und Sappho wird vorgestellt (01.04.23)
Zweiter Teil
V. Das einzige vollständig erhaltene Gedicht
Das einzige vollständig erhaltene Gedicht Sapphos ist ein Liebesgedicht (Bagordo 49). Ein Gebet, gerichtet an die Göttin der Liebe, Aphrodite. Nach den griechischen Göttermythen ist Aphrodite entweder die Tochter des Zeus oder, was wahrscheinlicher ist, des Uranos. Uranos war der Großvater von Zeus. Er wurde von seinem Sohn Kronos mit einer Sichel entmannt, so dass Blut und Samen vom Himmel ins Meer spritzten und einen fruchtbaren und sehr schönen Schaum bildeten. Daraus entstand Aphrodite. Sie bewohnte auf dem Olymp ein goldenes Haus. Wenn sie die Neigung verspürte, einem in Liebeskummer geratenen Menschen zur Hilfe zu eilen, bestieg sie eine goldene Luftkutsche, die von eifrig mit den Flügeln klatschenden Spatzen durch den himmlischen Äther gezogen wurde.
In Sappho’s Gedicht wendet sich eine junge Frau (Sappho), die in eine andere Frau leidenschaftlichst verliebt ist, an Aphrodite. Sie bittet Aphrodite um Hilfe und weist darauf hin, dass die Göttin schon einmal in ähnlichem Fall geholfen habe; damals habe sich Aphrodite erweichen lassen und Sappho getröstet: Die jetzt noch abweisende Geliebte werde bald selbst rasend in Sappho verliebt sein.
Das Gedicht ist im sogenannten »Sapphischen« Versmaß geschrieben. Jede Strophe hat vier Zeilen, die ersten drei Zeilen haben jeweils elf Silben, die vierte Zeile vier oder fünf Silben. Daneben gibt es für diese Art des Gedichtbaus noch Vorschriften für den Rhythmus und die Abfolge langer und kurzer Silben. Die Regeln lassen wenig Spielräume. Ich habe für diese Übersetzung versucht, mich so nah wie möglich an die Vorgaben zu halten.
Aphrodite! tochter des Zeus auf buntem
thron! du liebesgöttin so klug und listig!
treib die trauer aus meinem herzen, dann wird
meine seele ge
sund. Komm, wie einstmals du kamst: ich rief – du
neigtest, göttin, freundlich dein ohr und hörtest
mich, die schrie. und du – aus dem goldhaus stiegst du
nieder zu mir.
sperlingsvögel zogen, die flügel schwingend,
schnell vom himmel herab dein gespann,
leicht die luft durchmessend, niederschauend aufs
dunkele land.
schnell kamst du, gesegnete, zu mir. lächelnd
schautest du, unsterbliche, auf mein elend,
fragtest, was ich nun wieder litt, warum ich
wieder dich rief,
was ich wahngepeinigte wünsche, das nun
komme. wen du, göttin der sehnsucht, meinem
liebesrasen herschaffen solltest: »wer denn
quält dich, Sappho? die
jetzt dich flieht, wird dich bald schon verfolgen, die
jetzt kein geschenk nimmt, wird bald schon schenken, die
jetzt verschmäht, dich zu lieben – bald liebt sie dich,
ohne zu wollen.«
komm zu mir, du göttin, und löse wieder
schmerz und elend auf. gib, ich bitte dich, was
meine sehnsucht will. hör mich, göttin. kämpf mit
mir um mein glück!
Ob die alten Griechinnen an ihre Göttergeschichten wirklich und im wörtlichen Sinne geglaubt haben, lässt sich nicht zuverlässig beantworten. Ich kann mir das nicht gut vorstellen. Sollte es möglich sein, dass Sappho, deren Geist sich beim Schreiben in den komplexen Gefilden griechischer Grammatik und Metrik so leicht bewegte und die folglich einen trainierten Verstand gehabt haben muss, an goldene Luftkutschen glaubte, die, von Spatzen gezogen, vom Olymp nach Mytilene fliegen können? Die Göttergeschichten waren, so sehe ich es, für Sappho keine profanen Tatsachen; sie bildeten als Phantasien Material und Folie, um auf eine anschauliche, hochanspruchsvolle und vergnügliche Art zu philosophieren, spielerisch über das nachzudenken, was sich dem berechnenden Verstand entzieht: Zum Beispiel die Liebe, personifiziert durch die schaumgeborene Aphrodite.
VI. Mumien-Kartonage
Obwohl Sappho seit über zweieinhalb Jahrtausenden nicht mehr schreibt, erscheinen immer mal wieder Sappho-Gedichte, die noch niemand kennt. Das liegt daran, dass die neun Gedichtbücher, die sie hinterlassen hat – anders als zum Beispiel die Odyssee und die Ilias (8. Jahrhundert v.u.Z.) – nicht auf direktem Weg und vollständig, sondern nur durch fragmentarische Zitate erhalten geblieben sind und. Allerdings gibt der trockene Boden Ägyptens, besonders in der Nähe von antiken Verwaltungszentren, bis heute immer wieder Papyri frei, auf denen neben Abrechnungen, Verträgen, Listen, Gesetzen auch literarische Texte der Antike zu lesen sind. Die Papyri liegen manchmal in alten Mülldeponien, manchmal aber auch sind sie zu Mumien-Kartonage verarbeitet: Die Ägypter pflegten ihre Toten mit einer passgenau gefertigten Pappe zu umhüllen, die aus verleimten Papyri hergestellt wurde, aus Papyri, die man nicht mehr zu brauchen glaubte, z.B. ausgesonderte Lyrik aus Bibliotheken. Soweit die daraus gefertigten Pappsärge gefunden werden, verstehen es Wissenschaftler, aus der Mumien-Kartonage mit raffiniertesten Methoden die schönen alten Texte lebendig werden zu lassen.
VII. Über das Alter
Manchmal zeigen Fragmente unterschiedliche Teile desselben Gedichts. Wissenschaftler vergleichen die Fragmente miteinander und stellen dann mit Erfahrung und Phantasie eine vollständige Fassung des Gedichts her, und zwar so, wie sie glauben, dass es gelautet haben könnte. So machte es der englische Gelehrte Martin L. West auf der Grundlage mehrerer Funde eines Sappho-Gedichts, das eine Klage der alternden Dichterin über das Alter enthält (Zeitschrift für Papyrologie und Epigraphik, Bd. 151 (2005), 1–9; Bagordo 132).
ihr mädchen, ihr der duftenden musen liebliche gaben,
seid eifrig, ihr mädchen, und singt zum klaren klange der leier,
denn ach, mein einstmals beweglicher körper ist alt.
weiß ward mein haar und schimmerte einstmals bräunlich.
schwer ist mein herz nun, es stützen mich nicht mehr
die knie, die einst wie ein rehkitz zum tanze flogen.
dies beklage ich oft. doch was soll ich tun?
nicht zu altern – dahin führt für menschen kein weg.
Tithonus ward einst entführt von der rosenfingrigen
morgenröte. ach, sie war so verliebt und schleppte ihn bis
ans ende der welt. aber das alter, das graue,
ergriff ihn, den ehegemahl der unsterblichen frau.
Am Schluss des Gedichts taucht ein gewisser Tithonos auf. Dabei handelt es sich um den Ehemann der ewig jungen, rosenfingrigen Morgenröte (Eos). Tithonos war ein wunderschöner Mann, in den sich Eos heillos verliebte, als er jung war. Sie bat Zeus, ihm ewiges Leben zu verleihen, was Zeus auch tat. Eos vergaß aber, ihrem Mann auch ewige Jugend schenken zu lassen. So wurde aus dem schönen jungen Herrn ein alternder und nach Art alter Männer unablässig brabbelnder Greis, dessen Geschwätz Eos bis heute so auf die Nerven geht, dass sie morgens glücklich ist, das eheliche Haus verlassen und die Erde beleuchten zu können.
Schluss folgt