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Hebt die Dachbalken hoch, Zimmerleute! Und Sappho wird vorgestellt (15.04.23)

Dritter und letzter Teil

IX. Eifersucht – ein berühmtes Gedicht

Schon im Altertum war Sappho’s großes Eifersuchtsfragment (Bagordo 97 nennt es: Liebessymptomgedicht) so bekannt, dass der römische Dichter Catull es ins Lateinische übersetzt hat. Allerdings ist sein lyrisches wie auch sein natürliches ICH männlich: Ein Mann sieht mit Schrecken zu, wie seine Geliebte es gern geschehen lässt, dass ein anderer Mann ihr auf die Pelle rückt. Im Original ist es Sappho, die mit Schrecken zusieht, wie ein Mann ihre Geliebte durch tiefe Blicke zum Lächeln bringt. Ein kleines poetisches Fest der rasenden Eifersucht:

eifersucht

jener scheint mir den göttern zu gleichen,
der sich so nah zu dir hingesetzt hat. er
schaut dir ins aug folgt deinem mund dem süßen
klang deiner stimme

und wie du ihm lächelst. das lässt mir
das herz in der brust stehnbleiben. wenn ich dich
anschau geschiehts dass mir die stimme verstummt.
nichts mehr sprech ich

sondern die zunge liegt totstill im gaumen.
feuer schlangen zucken unter der haut.
die augen sehn nichts und in den ohren
pfeifts und dröhnts.

schweiß bricht aus unruh. es zittern die hände
die knie das gesicht wird weißer als bleichgras und
nahe bin ich so scheints mir dem ewigen
abgrund dem tod.

X. »Hebt den Dachbalken hoch Zimmerleute!«

Ein in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts erschienenes, damals sehr populäres Buch des Amerikaners Jerome D. Salinger (übersetzt von Annemarie und Heinrich Böll) trug den Titel »Hebt den Dachbalken hoch Zimmerleute und Seymour wird vorgestellt«. Es sind zwei Kurzgeschichten, in einer davon geht es um eine Hochzeit. Darauf bezieht sich der Titel: »Hebt den Dachbalken hoch Zimmerleute« ist ein Sappho-Zitat, eine Anrufung des Hochzeitsgottes Hymenaios (Bagordo 210). Die Freundinnen der Braut geben mit dem Lied ihrer Freude darüber Ausdruck, dass der überaus starke (und wohl auch zeugungslustige) Bräutigam kommt. Er ist größer als der Kriegsgott, so groß, dass man die Dachbalken anheben muss!

hebt den dachbalken hoch,
Hymenaion,
hebt ihn hoch, ihr zimmerleute,
Hymenaion.
der bräutigam kommt, dem Ares ähnlich,
Hymenaion,
der große mann, größer als groß.
Hymenaion!

XI. Weibliches Schreiben?

Sapphos Lyrik ist sicher nicht in dem Sinn weiblich, dass Männer nicht über Liebe schreiben oder die Sapphische Strophe nicht beherrschen könnten. Im Gegenteil ist vor drei Jahren ein sapphisch gebautes Gedicht über eine Fahrradfahrerin aus der Feder des Jenaer Lyrikers Dirk von Petersdorf erschienen (FAZ 4. Februar 2020). Und doch ist Sapphos Lyrik in anderer Hinsicht sehr wohl weiblich: Nämlich insoweit, als sich in ihr der weibliche Wirkungskreis einer Frau im Lesbos ihrer Zeit widerspiegelt. Ihre Dichtung hält sich im Tonfall und motivisch in dem Bereich der Welt, der Frauen damals zugewiesen war. Wie ihr Genie daraus eine poetische Welt schaffen konnte, die unseren Geist auch zweieinhalbtausend Jahre nach der Niederschrift entzünden kann, ist eines der großen Rätsel der Dichtkunst. Freuen wir uns! Hebt den Dachbalken hoch, Zimmerleute!

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