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Hebt die Dachbalken hoch, Zimmerleute! Und Sappho wird vorgestellt (15.03.23)

Erster Teil

 I. Zarte Stimme – süßer Gesang

»Neun Frauen … brachte der Berg der Musen hervor« schrieb der griechische Dichter Antipater von Thessalonien im 1. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung in einem Zehnzeiler. Die schiere Tatsache, dass die Namen der im Altertum bekannten weiblichen Dichter in zehn Zeilen passten, zeigt, dass dichtende Frauen eine Ausnahme im literarischen Kosmos der Antike darstellten. Den Autorinnen bescheinigt Antipater in seinem kleinen Gedicht neben einer »göttlichen Zunge« auch eine »zarte Stimme“, wobei das griechische Wort für »zart« (theles) das idyllische Bild einer stillenden Mutter aufruft, die mit ihrem Säugling in ein intimes Wispern vertieft ist. Außerdem sagt er von weiblichen Versen, sie seien »süßer« Gesang, bei dem oft der Liebesgott Eros die Feder führe.

So sieht also die – vielleicht nicht früheste, aber doch sehr frühe – männliche Einschätzung der Besonderheiten weiblicher Dichtung aus: Die Künste des Herzens sind Sache der weiblichen Lyrik. Das würde man aus heutiger Sicht vielleicht gerne als eine von virilem Hochmut geprägte Herabwürdigung bezeichnen, entspricht aber dem Befund: Während die männlichen Dichter der Antike neben Liebe und Tod auch die Politik, den Wein, den Krieg und den Sport besangen und auch gerne gehässige Spottlieder und Zoten fabrizierten, ging es bei der zweifellos bedeutendsten Dichterin Sappho im Tonfall mehr elegisch als heroisch zu und in der Metaphorik eher häuslich. Kleider, Frisur, Kosmetik spielen eine Rolle und sogar die Küche: Die Liebe zum Beispiel lässt Sappho in einem Gedicht (Sappho, Gedichte, Griechisch-Deutsch, herausgegeben von Andreas Bagordo, 1. Auflage 2011, 107) als Köchin auftreten, der die erhitzten Liebenden zurufen: »Du brätst uns.«

II. Sappho wird vorgestellt

Was wir über Sappho sicher wissen, ist nicht viel. Manches ist den Werken griechischer und römischer Geschichtsschreiber zu entnehmen, die aber meist Jahrhunderte nach dem Tode Sapphos entstanden. Das meiste haben die Gräzisten des 19. und 20. Jahrhunderts durch Rückschlüsse aus den – fast durchweg nur fragmentarisch – erhaltenen Versen der Dichterin erschlossen.

Sappho, die sich selbst Psappho nannte, wurde zwischen 650 bis 630 v. u. Z. in dem kleinen Städtchen Eresos auf der Insel Lesbos in der nördlichen Ägäis geboren. Sie stammte aus vornehmer Familie und wuchs in Mytilene auf, dem Hauptort der Insel. Sappho hatte drei Brüder. Sie scheint eine körperlich eher kleine, brünette und temperamentvolle Frau gewesen zu sein. Wahrscheinlich hatte sie eine Tochter und fand sich selbst nicht besonders hübsch. Dass sie als Frau über leidenschaftliche Liebe zu Frauen schrieb, trug ihr im prüden 19. Jahrhundert den Vorwurf der »Perversion« ein und begründete die Bezeichnung »Lesbierin« für gleichgeschlechtlich orientierte Frauen. Der Wiener Altertumswissenschaftler Walther Kraus (1902–1997) schrieb dazu im »Kleinen Pauly«: »Zwischen Kindheit und Hochzeit wurden die Mädchen (von Lesbos) der Obhut einzelner hervorragender Frauen anvertraut und im Zusammenleben mit ihnen auf ihre häuslichen und gesellschaftlichen Aufgaben vorbereitet … Dass sich zwischen der reifen Frau und den Heranwachsenden leidenschaftliche Beziehungen nicht ohne sinnliche Komponente ergaben, ist nicht nur unter Griechen normal; dem frühen Hellas eigentümlich (ist) nur die Aufnahme dieses Empfindungsbereichs in feste Sitte, wodurch er einen Einschlag des Konventionellen erhielt.« »Thiasos« ist das griechische Wort für Gruppen von jungen Frauen, in denen es eine – auch für griechische Männer belegte – homoerotisch gefärbte Erziehungspraxis gab; es bestehen sogar Hinweise auf gleichgeschlechtliche Eheschließungen: Der Ausdruck synzyx (wörtlich: »unter dem selben Joch«) wurde metaphorisch für »verheiratet« verwendet, wie der italienische Philologe Andreas Bagordo schreibt, nach dessen zweisprachiger Ausgabe der Werke Sapphos hier die Fundstellen für die Gedichte genannt sind. Den genauen Todeszeitpunkt der Dichterin kennen wir nicht. Sie wird aber kaum älter als 60 Jahre geworden sein. Dass sie sich aus Liebeskummer um einen schönen jungen Bootsführer von einem Felsen auf der Insel Lefkada gestürzt habe, wird behauptet.

III. Sprache und Schwierigkeiten der Übersetzung

Der schon erwähnte Walther Kraus umreißt den gesellschaftlichen Rahmen, in dem Sappho schrieb, so: »Die musische Erziehung der Mädchen, ihre Teilnahme an Götterfesten und Hochzeitsfeiern boten Raum und Anlass für poetisch-musikalische Produktion, Lieder, die teils für Chöre … bestimmt waren, teils für Einzelgesang, vornehmlich die eigene Stimme der Dichterin …«

Sapphos Dichtung stand also in einem wohldefinierten sozialen Kontext. Ihre Lieder waren zum Vortrag bei rituellen Feierlichkeiten gedacht. Sie schrieb für konventionelles Publikum, was nahelegt, dass sie die Absicht hatte, angenehm zu klingen und rasch verstanden zu werden. Sie war vielleicht in etwa das, was die Amerikaner heute »singer-songwriter« und die Spanier »cantautor« nennen. Ihre Sprache war Äolisch, ein Dialekt des Griechischen, der außer in Böotien und Thessalien auch auf Lesbos und im heutigen Nordwesten der Türkei gesprochen wurde. Wie die alte griechische Lyrik generell sind auch Sapphos Verse nicht in Reimen gebaut, sondern nach anderen, übrigens recht  verzwickten rhythmischen und sprachmelodischen Regeln. Ein Element ist der abzählbare Wechsel langer und kurzer Silben.

Beim Übersetzen habe ich bis auf wenige Ausnahmen nicht versucht, die griechischen Regeln einzuhalten. Mein Bestreben war, die Stimmung der griechischen Liedtexte in möglichst einfaches und unaufdringlich rhythmisiertes Deutsch zu bringen. Die Überschriften habe ich hinzugefügt.

IV. Zwei Idyllen

Wer sich im Internet nach Versen von Sappho umsieht, wird schnell auf zwei sehr kurze Gedichte stoßen. Von beiden ist zu ahnen, dass sie Fragmente sind, was ihren Reiz nicht mindert. Das erste (Bagordo 240) führt uns eine Situation vor, in die bis heute jeder einigermaßen gefühlsbegabte Mensch geraten kann: Nächtliche Einsamkeit, verbunden mit einer unbestimmten Sehnsucht:

Δέδυκε μεν α σελάννα και
Πληιάδες· μέσαι δε
νύκτες, παρά δ‘ έρχετ‘ ώρα,
εγώ δε μόνα κατεύδω. 

untergegangen der mond und
die pleiaden. mitte
der nacht. die stunden ziehen vorüber
ich aber liege allein.

Das zweite Gedicht (Bagordo 206) kann man als Wiegenlied lesen – oder als Hochzeitslied, je nachdem, welche der beiden Möglichkeiten zur Übersetzung der letzten Zeile man wählt. Als Wiegenlied könnte es eine Mutter ihrem Kind vorsingen, das, wie auf dem Lande gut vorstellbar, den Tag über auf Wiesen gespielt hat und am Abend mit den Schafen und Ziegen nach Hause zurückkehrt:

Ἔσπερε πάντα φέρων
ὄσα φαίνολις ἐσκέδασ‘ Αὔως.
φέρεις ὄιν φέρεις αἶγα.
φέρεις ἄπυ μάτερι παῖδα.

abendstern alles bringst du zurück
was der rosige morgen zerstreute.
das schaf bringst du heim, die geiß bringst du heim
und du bringst auch der mutter ihr kind.

Die letzte Zeile des griechischen Textes wird allerdings meist in einem anderen, geradezu gegenteiligen Sinn verstanden. Das Kind kehrt nicht nach Hause zurück, es ist vielleicht auch gar kein kleines Mädchen mehr, nur die Mutter nennt es noch Kind. In diesem Fall muss das Lied als Fragment eines Hochzeitsliedes verstanden werden: Die Mutter – wieder in ländlicher Umgebung – ist allein und traurig, dass ihre liebe Tochter nicht mehr wie früher mit den Schafen und Ziegen abends nach Hause kommt:

abendstern

abendstern alles bringst du zurück
was der rosige morgen zerstreute.
das schaf bringst du heim, die geiß bringst du heim
und du nimmst der mutter ihr kind.

Wie auch immer man diese Verse deutet, man darf gerührt sein.

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