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Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid, Folge 4: Die Entstehung der Welt (15.04.21)

I. Zwischenüberschriften

In den heute erhältlichen Ausgaben der Metamorphosen ist der Text fast immer durch Zwischenüberschriften gegliedert. Das ist angesichts des überbordenden Erzählstoffs, der den Zeitraum von der Entstehung der Welt bis etwa zur Zeit von Christi Geburt erfasst, sehr segensreich für Leserinnen und Leser. Ich glaube, auch Ovid hätte gegen solche Erleichterungen nichts gehabt. Man muss das Buch nicht Satz für Satz lesen, so wenig wie man jedes Haus einer Stadt gesehen haben muss, um sie kennenzulernen.

Zu der schieren Stoffmenge der Metamorphosen kommt hinzu, dass die Inhalte der fünfzehn Bücher oftmals so märchenhaft ineinander verschlungen sind, dass man leicht den Faden verliert und zwar gerade dadurch, dass man ihn sucht. Es kann also von Vorteil sein, sich nur auf die jeweilige Geschichte zu konzentrieren und den Faden Faden sein zu lassen. Bei guten Fernsehserien ist es ja auch so: Jede Folge hat einen Sinn für sich, mit dem man sich zufrieden geben darf.

Die von Ovid erzählten Geschichten haben übrigens, anders als zum Beispiel unsere deutschen Volks-Märchen, oft einen ausgearbeiteten philosophischen Hintergrund. Diesen Hintergrund im Geflecht der Verse zu erahnen, ist einerseits ein besonderer Reiz, andererseits eine gewisse Ablenkung vom Vordergrund des erzählten Geschehens. Man hat gelegentlich das Gefühl, zwei Wirklichkeiten gleichzeitig zu betrachten, wenn man die Metamorphosen angeht: Einmal das Gebüsch der bunten bis skurrilen sagenhaften Geschichten von Menschen, Tieren, Göttern, Pflanzen, Steinen und Seen; und zwischen den Worten und Bildern bieten sich dem Leser immer wieder Ausblicke auf philosophische Gedanken und Gedankenspiele – bis hin zu den römischen Frühformen der Atomtheorie, von der schon die Rede war.

II. Die Entstehung der Welt und des Menschen, wie sie in Ovids Metamorphosen dargestellt wird (I, 5–88)

Am Anfang war nicht das Nichts. Es gab ein Etwas. Aber dieses Etwas war völlig ungeordnet, ein grauer Brei, ein gähnender Abgrund, ein Chaos, Wasser, Erde, Licht und Luft, alle ineins gerührt und sich doch nicht miteinander vertragend, das war alles, nichts sah so aus wie es eigentlich aussieht, es gab überhaupt kein Aussehen, alles was es gab waren:

»non bene iunctarum discordia semina rerum«
»zwieträchtige samen zusammenhangloser dinge«

Diesen Streit hat ein Gott – Ovid sagt, man weiß nicht, welcher Gott es war, aber es war ein Gott – zusammen mit der besseren Natur geschlichtet, und zwar,  indem er »die Samen der Dinge« – unter denen Ovid kleinste Materieteilchen verstand – ordnete. Ovid sagt: »Dissociata locis concordi pace ligavit. « (I, 25): Indem ein Gott den Materieteilchen verschiedene Räume zuwies, gab er dem Kosmos Frieden und Eintracht. Ovid sieht als ein erstes Prinzip friedlicher Ordnung, dass nicht alles an jedem Ort ist, sonden jedes an einem bestimmten Ort. Man könnte auch sagen: Alles, was ist, muss irgendwo sein. Und der Satz gilt auch im Großen. Wir speichern ja gerne in der cloud. Und aus irgendeinem Grund hatte ich immer den Eindruck, die cloud sei vielleicht eine Ausnahme von der Regel, dass alles seinen Ort hat. Bis ich las, dass eine französische cloud mit schweren Folgen für viele, die dort, in Straßburg am Rhein, ihre Daten gespeichert hatten, regelrecht und ganz körperlich mitsamt dem Haus, in dem sie bzw. die sie bildenden Speichergeräte stand, sang- und klanglos abgebrannt ist.

Rund 75 Verse dauert es, bis aus dem wüsten chaotischen Anfang Flüssiges und Festes, Lichtes und Dunkles geworden, bis die Erde zu einer Kugel (!) geballt ist, der Himmel Gestalt findet, bis Land und Meer, Wald und Feld, heiße und gemäßigte und eisige Zonen auf der Erde eingerichtet sind, Flüsse und Wälder, Seen und Meere mit Fischen darin, und bis den ewig zerstrittenen Brüdern, den vier Winden, angemessene, voneinander getrennte Unterkünfte zugewiesen sind, ebenso wie den Vögeln. Es folgt dann die Erschaffung des Menschen:

»Segensreicher als Vögel und Fische und besser mit Klugheit,
auch mit der Kraft versehen, die andern Wesen zu leiten, ein
solcher, der anfangs fehlte, kam nun auf die Welt: Der Mensch. Ob er
Gottes Geschöpf aus den irdischen Samen war oder ob bei der
Schaffung der Welt noch Reste himmlischer Samen auf Erden
waren? Wer weiß! Die Samen mischte ein Gott mit Wasser des
Regens und formte sie nach dem Bilde der alles lenkenden
Götter. Die Tiere ließ er den Kopf nach vorne tragen, die
Augen zur Erde gerichtet. Aber dem Menschen gab er den
Blick zum Himmel, hinauf zu den Sternen. So ließ er die eben noch
rauhe, gestaltlose Erde sich wandeln in menschliche Formen.«

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