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Kein Aprilscherz – Das Reichgericht und die Eisenbahn (01.04.21)

 

Eines meiner liebsten Urteile stammt vom 17. März 1879. Das damals in Gründung stehende Reichsgericht hatte über die Klage eines Bahnarbeiters zu entscheiden. Der Arbeiter war beim Bau einer neuen Bahnstrecke (wohl im Harz) eingesetzt worden. An einem Tag im September 1876 saß er auf dem Bremswagen eines Zugs, der auf einem defekten Hilfsgleis fuhr. Dieses Hilfsgleis war eiligst und notdürftig für den Abtransport von Erdaushub gebaut worden. Weil sich das Hilfsgleis am 8. September 1876 absenkte, stürzte der Zug um und der Arbeiter erlitt erhebliche Verletzungen.

Bei seiner Schadensersatzklage gegen den Betreiber der Bahn und das Unternehmen, das für den Bau der Bahn verantwortlich war, berief er sich auf das Reichshaftpflichtgesetz von 1871. Danach musste der »Betriebs-Unternehmer« Schadensersatz zahlen, wenn »bei dem Betriebe einer Eisenbahn« jemand verletzt wurde. Die beklagten Unternehmen beriefen sich darauf, der Arbeiter sei nicht »bei dem Betriebe einer Eisenbahn«, sondern nur beim Bau einer solchen verletzt worden. Das Gesetz ziele auf Passagiere, nicht auf Bauarbeiter.

Das Reichsgericht folgte diesem Argument nicht und gab dem Arbeiter Recht: Allein maßgeblich sei, was objektiv unter dem »Betriebe einer Eisenbahn« zu verstehen sei. Um zu verdeutlichen, was eine »Eisenbahn« sei, hat es dann folgende bahnbrechende Definition gefunden:

»Eine Eisenbahn ist ein Unternehmen, gerichtet auf wiederholte Fortbewegung von Personen oder Sachen über nicht ganz unbedeutende Raumstrecken auf metallener Grundlage, welche durch ihre Konsistenz, Konstruktion und Glätte den Transport großer Gewichtmassen beziehungsweise die Erzielung einer verhältnismäßig bedeutenden Schnelligkeit der Transportbewegung zu ermöglichen bestimmt ist, und durch diese Eigenart in Verbindung mit den außerdem zur Erzeugung der Transportbewegung benutzten Naturkräften – Dampf, Elektrizität, tierischer oder menschlicher Muskeltätigkeit, bei geneigter Ebene der Bahn auch schon durch die eigene Schwere der Transportgefäße und deren Ladung usf. – bei dem Betriebe des Unternehmens auf derselben eine verhältnismäßig gewaltige, je nach den Umständen nur bezweckterweise nützliche oder auch Menschenleben vernichtende und menschliche Gesundheit verletzende Wirkung zu erzeugen fähig ist.«

Die vom Reichsgericht für die Eisenbahn gegebene Definition lernt so ziemlich jeder Jura-Student irgendwann kennen. Sie gilt als Inbegriff einer Form von Begriffsjurisprudenz, die glaubte, man könne als Jurist, gewissermaßen wie ein Mathematiker, »mit Begriffen rechnen« oder, wie ein Geodät, das Recht akkurat vermessen. Wir finden das heute lächerlich, eine skurrile Ausgeburt der Aufklärung. Ein Witzbold hat sogar eine Definition des Reichsgerichts gegeben:

»Ein Reichsgericht ist eine Einrichtung, welche dem allgemeinen Verständnis entgegenkommen sollende, aber bisweilen durch sich nicht ganz vermeiden haben lassende, nicht ganz unbedeutende beziehungsweise verhältnismäßig gewaltige Fehler im Satzbau auf der schiefen Ebene des durch verschnörkelte und ineinander geschachtelte Perioden ungenießbar gemachten Kanzleistils herabgerollte Definitionen, welche das menschliche Sprachgefühl verletzende Wirkung zu erzeugen fähig sind, liefert.«

Ganz so albern, wie es klingt, ist das Urteil des Reichsgerichts allerdings nicht. Im Gegenteil. Wenn man die Entscheidung genauer anschaut, ist sie von einem sozialen und fast schon ökologischen Fortschrittsdenken beeinflusst.

Das Reichsgericht sagt nämlich gleich zu Beginn des Urteils, es liege allein im Sonderinteresse vermögender Unternehmen, den Schadensersatzanspruch nach dem Reichshaftpflichtgesetz zu Lasten der einfachen Leute zu »verkümmern«: Große Unternehmen versuchten, für die vielfältigen Schäden, die durch die Nutzung der damals neuen und gefahrvollen industriellen und technischen Verfahren angerichtet würden, möglichst nicht aufkommen zu müssen. Die von diesen vermögenden Unternehmen geförderte »Strömung« habe sich auch »eines Teils der mit der Auslegung (des) Gesetzes befassten Literatur« bemächtigt – zu Deutsch: Es fanden sich Rechtswissenschaftler, die das Gesetz zu verbiegen versuchten, im Interesse vermögender Kreise.

Genau diesen – auch heute zu beobachtenden – Verbiegungs- und Verkümmerungsversuchen wollte das Reichsgericht damals entgegentreten. Und um nicht in den Verdacht zu geraten, nun seinerseits interessengeleitet zu urteilen, fand es seine Eisenbahn-Definition, die beweisen sollte, dass es sich selbst auf den geraden und wohlbefestigten Gleisen objektiver Rechtsfindung bewegte. Dafür gebührt dem Gericht Respekt! Und wir lernen vielleicht, dass sich  hinter der manchmal lächerlich wirkenden Sprödigkeit der Juristen-Sprache  ein schönes und aufrichtiges moralisches Gefühl verbergen kann. Ein bißchen lachen darf man ja trotzdem.

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