Kennwort Kaspar
Eine hochauflösende Betrachtung
Christoph Schmitz-Scholemann
I.
Nein, sagte mein Freund A., natürlich helfe das Fernsehen nicht, und schon gar nicht der Literatur. Das Fernsehen sei eine grundschädliche Einrichtung. Und was schädlich sei, könne nicht gleichzeitig nutzen, das zeige schon die pure Logik, von Aristoteles bis Frege, Russell und Wittgenstein. »Fernsehen«, fuhr er fort »taugt eben nicht. Es verdirbt die Augen, das wußte meine Mutter sehr genau; und es verdirbt den Charakter, das sagte mein Vater. Wie sollte es da ausgerechnet die Literatur nicht verderben?
Wenn das Fernsehen eine Hilfe wäre für die Literatur, dann müßte doch aus den Vereinigten Staaten von Amerika, wo seit einem halben Jahrhundert in jeder Familie ein TV-set zu Hause ist und flimmert und brummt und schreit – dann müßte doch aus diesem Land allmählich mal der große Roman, die schlechthin leuchtende Lyrik, das alles erschütternde Drama gekommen sein. Sehen Sie etwas davon? Ich nicht. Ich gehe nicht so weit wie Reinhard Lettau, der behauptete, man müsse schon ziemlich schlecht sein, um in den Vereinigten Staaten Erfolg als Schriftsteller zu haben; aber das Buch der Epoche – der neue Homer, der Shakespeare, der Goethe des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts – nicht daß ich wüßte.
Nein, das Fernsehen ist im glücklichsten Fall ein ungetreuer Diener, der uns das Beste stiehlt, das wir haben: Zeit und Phantasie. Im schlimmsten Fall ist das Fernsehen kein Diener, sondern ein teuflischer Herr, ein boshafter Lehrer und ein gewissenloser Diktator, der Dummheit und Gier, Haß und Gewalt in die Herzen sät.
Vor zweieinhalbtausend Jahren fanden einige Griechen heraus, es sei vorteilhafter, innenpolitischen Streit nicht mit Stein und Knüppel, sondern durch Rede und Abstimmung auszufechten – es gab ganz einfach weniger Verletzte. Damit dieses demokratische Projekt gelingen konnte, brauchte man geschriebene Gesetze und gewandte Redner; das Stadtvolk mußte lesen, schreiben und reden können, es mußte literaturfähig sein. Bis heute ist die Literaturfähigkeit der Bevölkerung eine Bedingung für das komplizierte Spiel um die Macht in der rechtsstaatlichen Demokratie. Das Fernsehen aber hat – um das mindeste zu sagen – eine Tendenz, Texte, insbesondere geschriebene Texte überflüssig zu machen. Bilder treten an die Stelle von Sätzen, rasende bunte Punkte ersetzen die Buchstaben – Verwirrung durch Geschwindigkeit, könnte ein Motto lauten, Atemlosigkeit statt Gedächtnis ein anderes. Die rasanten Bildgewitter sollen uns »packen«, »fesseln«, »gefangennehmen« – das Fernsehen ist ein aggressives Medium: wir sollen nicht Lese halten, sondern auf der Stelle verschlingen, wir sollen nicht schreiben, sondern Knöpfe drücken, und wir sollen nicht reden, sondern nur noch AH! und OH! und MMH! rufen – kurz: das Fernsehen ist ein Generalangriff auf genau die Fähigkeiten, die Bedingungen der Demokratie, des Rechtsstaates und der Kultur überhaupt sind, es ist ein Generalangriff auf die Literaturfähigkeit, eine großangelegte und perverserweise äußerst gewinnträchtige Kampagne zur Dealphabetisierung, es ist Krieg gegen die Literatur.«
II.
Soweit mein Freund A. Ich fand, er hatte recht, und deshalb merkte ich mir genau, was er gesagt hatte; ich trug seine Sätze eine Zeitlang mit mir herum, wie andere Leute Bilder in der Brieftasche haben; wo immer sich eine Chance zum Gespräch zu bieten schien, bei Zugfahrten, auf Partys und Hochzeiten, manchmal auch in Gesellschaft vor dem Fernsehgerät, zückte ich statt der Ansichtskarten aus dem letzten Urlaub die harten Ansichten meines Freundes über das Fernsehen und die Literatur. Und ich tat es nicht einfach so aus Laune, sondern mit methodischem Bedacht und Hintersinn. Ich hoffte, auf diese Weise den von mir erstrebten Erkenntnisgewinn zu der Frage, ob das Fernsehen der Literatur helfe, offen für Überraschungen, gewissermaßen als kalkuliert-chaotischen Prozeß organisieren zu können. Auf keinen Fall wollte ich mir vorwerfen müssen, mein Thema als blinder Solipsist mit mir allein, etwa durch bloßes Denken und Schreiben, verhandelt zu haben; meine Methode sollte sich vielmehr an den Großdenkern unserer Jahre ausrichten. Also trug ich A.’s Ansichten vor. Und ich erhielt eine Menge Zustimmung – zuviel, um dahinter nicht sehr viel mehr Gleichgültigkeit als Überzeugung zu vermuten; mir kam es auch so vor, als hielten die meisten das Thema für irgendwie abgefrühstückt; sie beeilten sich, das Gespräch schnell wieder in die vertrauten Bahnen nichtssagender Ironie zu lenken, die, als wäre das Leben eine Kabarettnummer, gegenwärtig den gesellschaftlichen Ton bestimmen.
Einer ließ sich immerhin entreißen, ihn erinnere diese Diskussion um Fernsehen und Literatur an Besinnungsaufsätze, die er als Primaner Ende der Fünfziger Jahre habe schreiben müssen, und er habe damals geahnt, daß hinter der Kritik am Fernsehen eine gehörige, wenn nicht sogar ungehörige Portion altdeutscher Amerika-Feindlichkeit stecke man habe – übrigens ähnlich wie in der DDR auf Kaugummi, Nyltesthemden, schwarzen Jazz und das Fernsehen eingeprügelt in der Hoffnung, Freiheit und democracy zu treffen. Jeder, dem ich meine (nein: A.’s) Ansichten vortrug, war übrigens aus dem Stand bereit, von mindestens fünf durchs Fernsehen verdorbenen Abenden in den letzten zwei Wochen zu berichten, und einer sagte sogar, daß es besser gewesen wäre, ein bißchen Heine oder Goethe oder Elke Heidenreich ( ein Atemzug!) zu lesen, aber man komme eben zu nichts, und die Tagesschau dürfe man ja nun auf keinen Fall verpassen, und die Sendungen seien heute so raffiniert angelegt, daß man sich oft einfach nicht mehr losreißen könne, das Literarische Quartett sei ein Vergnügen und Reich-Ranicki habe ein Denkmal verdient, obwohl er mit Grass nicht gerade fein umgesprungen sei … und ob ich gesehen habe, wie Wicken letzten Freitag und Grass im NDR und Biermann bei VOX und Hrdlicka bei Harald Schmidt und die Themen-Abende bei arte und immer so weiter.
Langer Rede trüber Sinn: Auf diesem Weg konnte es mir nicht gelingen, Einsichten zu hören, die, sofern es sich überhaupt um mehr als die Aneinanderreihung reizvoller Namen handelte, nicht schon vom Talk-Show-Mainstream glatt- und plattgeschliffen gewesen wären. So war ich denn sehr dankbar, als mein Freund A. die Idee hatte, wir könnten doch in einen Briefwechsel treten. Als Motto einigten wir uns auf einen Satz von Lessing; er lautet: »Sieh überall mit deinen eigenen Augen, verunstalte nichts, beschönige nichts. Wie die Folgerungen fließen, so laß sie fließen, hemme ihren Strom nicht, lenke ihn nicht.«
Was nun folgt, sind also Ausschnitte aus unserem Briefwechsel; ich habe darauf verzichtet, sie nach der Chronologie oder nach der Autorschaft zu ordnen, beides täte wenig zur Sache, schließlich ist das hier ja kein Entwicklungsroman; A., den ich, obwohl wir das Sie nie aufgegeben haben, mit einigem Recht mein alter ego nennen darf, A. also hat die von mir getroffene Auswahl und Anordnung unserer kleinen Korrespondenz geprüft; er ist einverstanden.
III.
»Ende der Siebziger Jahre schrieb der Amerikaner J. Mander ein Buch mit dem Titel: ›Schafft das Fernsehen ab!‹. Hätte man ihn ernst nehmen sollen? Man tat es nicht, und das ist gut so.
Abgesehen davon, daß er in gewisser Weise ein Heuchler war – denn er propagierte seine Thesen selbstverständlich mit Vorliebe in Talk-Shows der kommerziellen Sender, molk also mit Fleiß die Kuh, die schlachten zu wollen er vorgab – abgesehen davon: Was würde eigentlich passieren, wenn wir seine Forderung heute ernst nähmen? Was wäre die Folge der Abschaffung des Fernsehens? Die Folge wäre ohne Zweifel eine kulturelle, ökologische und soziale Katastrophe von unglaublicher Wucht.
Millionen – was sage ich: Milliarden von Röhren und Dioden, Magnetköpfen, Drähten, Mattscheiben, Kunststoffgehäusen, Satellitenschüsseln, Glasfiberkabeln, Stekkern, Knöpfen, Stiften, Dosen – wohin damit? Ein Heer arbeitsloser Beleuchter, Niederfrequenztechniker, Cutterinnen, Redakteure, Witzeschreiber, Platzanweiser, Maskenbildnerinnen, Honorarabteilungsleiterinnen, Kritiker, Zeichner, Drucker, Photographen, Kioskbetreiber, Medienwirkungsforscher, Elektronik-Ingenieure – wohin damit? Sollen wir aus all diesen Leuten Literaten machen? In Deutschland – nehmen wir nur einmal Deutschland – gibt es gut dreißig Millionen Fernsehgeräte – sollen wir Vogelkäfige daraus basteln? Der vom Fernsehen abhängige Ums atz beträgt in Deutschland: nach Schätzungen jährlich zwischen zwanzig und fünfzig Milliarden Mark – das entspricht fast einem Zehntel des Bundeshaushaltes.
Wenn Sie diesen Umsatz aus der Volkswirtschaft einfach herausnähmen – es gäbe eine Revolution. Nichts bliebe, wie es ist, auch nicht die Literatur. Bedenken Sie, wie vielen Literaten und Literaturfreunden das verhaßte Fernsehen zu Brot (und ich denke: auch einiger Butter darauf) verhilft. Es ist ja gar nicht wahr, daß das Fernsehen nur aus Musikantenstadl (Donnerstag, 21.00 Uhr), Rudis Lacharchiv (Donnerstag, 21.45 Uhr), Dr. Stefan Frank – Der Arzt, dem die Frauen vertrauen (Donnerstag, 20.15 Uhr), Peep-Show mit Amanda Lear (Donnerstag, 23.05 Uhr) und Wa(h)re Liebe mit Lila Wanders (Donnerstag, 23.10 Uhr) bestünde. Sehen Sie sich nur das Programmheft einer einzigen Woche durch, und Sie werden staunen, wen Sie da alles treffen: Frank Wedekind bei Bayern 3, Hans Magnus Enzensberger bei Arte, Walter von der Vogelweide am Tegernsee bei Hessen 3, Carlo Collodi im ZDF, Heiner Müller im WDR-Fernsehen, Das Literarische Quartett nicht zu vergessen. Außerdem betätigen sich die öffentlich-rechtlichen Anstalten als Mäzene, sponsern Literatur-Preise, senden Video-Kunstwerke, große Literaturverfilmungen (Effi Briest von Faßbinder, Wahlverwandtschaften von Claude Chabrol) laden schüchterne Dichter in Talk-Shows ein und vergeben gelegentlich sogar Drehbuch-Aufträge an seriöse Schriftsteller (es gab Produktionen von Beckett und Pinter, von Arden, Wesker und Marguerite Duras – selbst wenn die Einschaltquote nur eins vom Hundert betrug, das sind immer noch dreihunderttausend Zuschauer, dreimal so viele Menschen wie das Estadio Nou Camp von Barcelona faßt!); und der Bildschirmtext-Dienst von ARD und ZDF unterhält eine ständige Rubrik mit Hinweisen auf neue Bücher, auf Theater und Festivals – nehmen Sie getrost hinzu das Schulfernsehen und die Theaterübertragungen in 3sat, nächste Woche wird sogar der Klagenfurter Wettbewerb direkt übertragen – also wahrhaftig, es geschieht eine Menge, ich wüßte keine Institution in Deutschland, die mehr als das Fernsehen täte für die Literatur. Wenn also überhaupt jemand der Literatur hilft – dann das Fernsehen.«
IV.
»Das Fernsehen hilft der Literatur so, wie die Literatur der Musik hilft und die Musik den Vögeln.«
V.
»Wer sich die Frage stellt, ob er helfen kann oder soll oder muß, der hat, vielleicht ohne lange darüber nachgedacht zu haben, zuvor eine Hilfsbedürftigkeit entdeckt. Man hilft ja nicht einfach so in der Gegend herum wie man spazierengeht oder tanzt oder ißt oder Blumen pflanzt. Man hilft aus Pflichtverstand oder Anstandsgefühl oder, um ein moderneres Wort zu gebrauchen, aus Solidarität; wir helfen der Dritten Welt, gefährdeten Tieren, gefangenen Menschen, sterbenden Wäldern, wir helfen alten, humpelnden, tauben und blinden Menschen – die Liste derer, denen wir helfen, ist so lang wie die Liste der Defekte und Devianzen des Menschen und der Natur.
Warum also Hilfe für die Literatur? Ist etwas nicht in Ordnung mit ihr? Leidet sie Not? Ist sie krank? (Tot war sie ja schon öfter, das kennen wir, das erschüttert uns nicht, zumal die Toten, wie die Bibel sagt, keine Hilfe mehr brauchen.) Oder braucht die Literatur Hilfe nur in dem Sinne, in dem junge und gesunde Menschen (und Kletterpflanzen) Hilfe brauchen: Nämlich um groß und stark zu werden. Braucht die Literatur – um eine alte Erziehungsmethode ZU bemühen – den Stock, eine kleine Bastonade, auf daß ihre Widerstandskräfte erstarken? Oder benötigt sie vielleicht eine Rankhilfe?«
VI.
»Wenn wir fragen, ob das Fernsehen der Literatur hilft, dann unterstellen wir, daß die Literatur es wert sei, daß man ihr helfe. Sie gilt uns als forderungswürdig. Wir halten sie für einen wichtigen Bestandteil der Kultur. Wir sehen Bibliotheken vor uns, Wolfenbüttel, Trinity College, Coimbra, Paris, stille, kühle Säle mit langen Tischen, auf denen Bücher ausgebreitet sind und cahiers, wir sehen Regale und Folianten, vielleicht einen älteren Herrn mit seidener Fliege nachdenklich zwischen Lichtdolchen und Staubsäulen wandelnd, wir erinnern uns des Holzgeruchs, wir hören Blätter rascheln und Federn kratzen; eindrucksvolle Köpfe tauchen vor unserem Geist auf, Thomas Mann und Gottfried Benn, Erasmus von Rotterdam, Wieland in Oßmannstedt, Arno Schmidt in Bargfeld über Zettel gekrümmt; wir denken vielleicht auch an Giordano Bruno oder Carl von Ossietzky, an Zensur und Bücherverbrennung, an Schriftsteller, die für das geschriebene Wort in den Tod gegangen sind, oder an Baudelaire und Rimbaud, die ihr Innerstes öffentlich verbrannten, um daraus das wilde Licht ihrer Gedichte zu gewinnen: Die Literatur – das ist in Wahrheit: Das Abendland! Wenn das nicht Abendland ist – was sonst?«
VII.
»Aber das Abendland steckt voller Überraschungen. Es hält Pointen vorrätig. Eine davon ist, daß einer der Urväter des abendländischen Denkens, Sokrates nämlich, ein ausgesprochen skeptisches Verhältnis zur Literatur unterhielt.
Obwohl er keineswegs Analphabet war, hinterließ Sokrates nicht einen einzigen schriftlichen Satz. Und das war kein Zufall! In dem Dialog Phaidros läßt Platon seinen Lehrer Sokrates die Geschichte von der Erfindung der Buchstaben durch den ägyptischen Gelehrten Theut erzählen. Theut stellte dem ägyptischen König in der Erwartung, großes Lob einzuheimsen, seine, wie er glaubte, geniale Erfindung vor: Diese Kenntnis, oh König, wird die Ägypter weiser und erinnerungsfähiger machen; denn als ein Hilfsmittel für das Erinnern sowohl als für die Weisheit ist sie erfunden.‹
Der König war ganz anderer Meinung. Zum ersten bemängelte er, daß ein Erfinder sich überhaupt das Recht nahm, über den Nutzen seiner Erfindung ein Urteil abzugeben.
Erfinden sei zwar eine beachtliche Leistung und eine hübsche Sache, aber eine Erfindung daraufhin zu untersuchen, ob sie nutze oder schade, gut oder schlecht sei, in Gebrauch genommen gehöre oder nicht – das erfordere ganz andere Fähigkeiten und Kenntnisse als sie ein gelehrter Tüftler üblicherweise mitbringe, so etwas solle man weitsichtigeren Leuten überlassen, zum Beispiel Königen.
Zweitens, sagt der König, könne man den Buchstaben einen gewissen Nutzen nicht absprechen: Immerhin seien sie in der Lage, gewissermaßen als Spuren zu dienen, mit deren Hilfe ein alterndes Gedächtnis vergessene Gedanken wiederfinden könne, ein mnemotechnisches Hilfsmittel also; ferner seien die Buchstaben auch geeignet, gebildeten Menschen als Spielmaterial zu dienen: Während der gemeine Mann seinen Geist mit Wein und Würfelspiel betäube, könne sich der Philosoph im Buchstabengärtlein ergehen, säen und ernten, pfropfen und stutzen, wie es der Spieltrieb ihm eingebe. Drittens aber berge der Gebrauch der Schrift schreckliche Gefahren, weil er den Irrglauben begünstige, Denken, Lernen und Reifen der Seele seien eine von den Schriftwerken kommende Gabe, die man so mir nichts dir nichts auflesen und, als hübsch gerolltes und geschnürtes Pergament, getrost nach Hause tragen könne, während doch in Wahrheit Denken und Lernen, also die Erkenntnis, eine schwere innere Arbeit des Menschen fordere, ein Innewerden, ein Sich-Erinnern. Der König sagt zum Erfinder: ›Und nicht also für das Erinnern, sondern für das Gedächtnis hast Du ein Hilfsmittel erfunden. Von der Weisheit aber bietest Du den Schülern nur Schein, nicht Wahrheit dar … und so werden sie Vielwisser zu sein meinen, da sie doch insgemein Nichtswisser sind und Leute, mit denen schwer umzugehen ist, indem sie Scheinweise geworden sind, nicht Weise.‹ Und noch etwas mißfiel Sokrates/Platon an der Literatur: Was sie berichte, stehe zwar wie lebendig da, wenn man aber eine Frage an die Buchstaben habe, schwiegen sie sehr vornehm. Buchstaben seien eben nichts als tote, wenn auch leider sehr dauerhafte Zeichen, was dem Buch schließlich auch die unangenehme Eigenschaft eintragen werde, überall in der Welt herumzuvagabundieren und dabei den Verständigen nicht genug sagen zu können, andererseits aber zu ungelehrigen Menschen zu sprechen, denen gegenüber es besser gewesen wäre zu schweigen.
Aber warum interessiert uns Platons Literaturskepsis im Zusammenhang mit der Frage, ob das Fernsehen der Literatur hilft? Nun, sie hilft, unser Thema genauer zu fassen, vor allem die Schwaden von kulturgeschichtlichem Nebel und Weihrauch beiseite zu pusten, die um das Wort Literatur schweben, so als hätten wir es da mit einer Göttin zu tun; wir werden uns die Dame etwas näher ansehen müssen.
Außerdem fällt mir bei Platon auf, daß seine Warnungen vor der Literatur gewisse Parallelen aufweisen zu den heute geläufigen Warnungen vor dem Fernsehen. Hören wir nicht immer wieder von Pädagogen und Medienforschern, eine große Gefahr des Fernsehens vor allem für junge Menschen bestehe darin, daß sie alles fertig vorgesetzt bekämen und ihnen das Denken abgenommen werde, daß sie sich deshalb einbildeten, alles zu wissen, ohne je etwas an Geist und Seele erfahren zu haben? Raten nicht Lehrer und Psychologen immer wieder dringend davon ab, Kinder allein vor dem Fernsehen sitzen zu lassen, weil das Fernsehgerät zwar eine Menge zeigen und sagen, aber nie eine Frage beantworten könne, weil es eben trotz aller vorgespielter Beweglichkeit letztlich ein totes Ding sei – ganz wie die Buchstaben? Nehmen wir hinzu, daß Platon in dem von ihm entworfenen utopischen Staat die Homer- Lektüre ganz verbieten wollte, weil darin zuviel Gewalt und Sex und zu wenig Ehrerbietung gegenüber den Göttern vorkomme, und vergegenwärtigen wir uns, daß in den Vereinigten Staaten kürzlich der Einbau eines antiviolence-chip in alle Fernsehgeräte gesetzlich angeordnet wurde – haben wir nicht allen Grund zu der Annahme, daß diese Parallelen kein Zufall sind? Vielleicht verbirgt sich hinter dem auf den ersten Blick gespannten Verhältnis der beiden Kommunikationssysteme Literatur und Fernsehen eine stille Verwandtschaft – oder mehr? Darüber aber ein anderes Mal.«
VIII.
»Ich habe das Gefühl, wir kommen nicht richtig voran. … Verlieren wir nicht unser Thema aus dem Auge? … Außerdem zweifle ich, ob wir eine angemessene Methode anwenden; schließlich gibt es eine empirische Sozialwissenschaft mit Statistiken und Marktanalysen, auch die Psychologie hat exakte Methoden entwickelt, Tests, Befragungen, Experimente, Checklisten. Und wir arbeiten – ja womit arbeiten wir überhaupt?«
IX.
»Wir arbeiten mit Briefen, Sie mit Ihrem Füllfederhalter, ich mit meinem Apple-Computer. Aber das ist nicht das Entscheidende an unserer Methode, das Entscheidende ist, daß wir denken. Das muß kein Fehler sein! Es gab in der Geschichte der Philosophie eine Gruppe, die sich die Selbstdenker nannte. Das sollte man wiederbeleben. Wir sind hier doch keiner Richtung, keinem Paradigma und keiner Fakultät etwas schuldig. Natürlich könnte man Statistiken erarbeiten, zum Beispiel könnte man die Ein schaltquoten von Literatursendungen messen und die Verkaufszahlen der darin behandelten Bücher vor und nach Ausstrahlung der betreffenden Sendung. Man könnte auch in Langzeitstudien das Leseverhalten von Vielfernsehern / Nichtfernsehern / Literaturfernsehern untersuche. Ich könnte Ihnen dann mit Hilfe meines Grafikprogrammes wunderschöne Säulendiagramme drucken – aber wußten wir damit wirklich etwas über unser Thema? Glauben Sie, man könne geistigen Realitäten wie ein Vermessungsbeflissener beikommen, mit Rechenprogrammen, spitzen Bleistiften und Millimeterpapier? Und welcherart wären die Daten, die wir mit den angeblich exakten Methoden gewönnen? Wir wüßten zum Beispiel aus den Einschaltquoten, wie viele Fernsehgeräte an einem bestimmten Tag zu einer bestimmten Uhrzeit angestellt und welche Programme eingeschaltet waren – was die Menschen vor dem Fernsehgerät machten, ob sie hinschauten, zuhörten, sich beeinflussen ließen, oder ob sie dösten oder bügelten, ob sie sich liebten oder sich gerade prügelten – das erfahren wir nicht. Ferner: Die Anzahl der verkauften Bücher sagt nicht viel über die Anzahl der gelesenen Bücher – und was heißt übrigens Lesen? Auguste Comte las nach seinem vierzigsten Lebensjahr kein einziges Buch mehr – und er war nicht der einzige schreibende Nichtleser; so mancher Literat hält es mit Kurt Tucholsky: Das bißchen, was ich lese, schreib ich mir selbst. So sonderbar es also klingt, so wahr ist es doch: Das Lesen gehört nicht zwingend zur Literatur.
Was Ihre Befürchtung betrifft, wir kämen nicht richtig voran und liefen gewissermaßen aus der Spur, so kann ich sie ebenfalls nicht teilen. Es kann sein, daß wir unsere Fäden im Kreise ziehen – aber es wird noch ein Netz daraus, wir müssen nur geduldig spinnen, und zwar durchaus in jedem Sinne des Wortes.«
X.
»Betrachten wir nun, wie verabredet, die Dame Literatur etwas näher. Die Etymologie sagt: Das Wort Literatur kommt aus dem Lateinischen; litera – Buchstabe. Dieses lateinische Wort hat eine indogermanische Wurzel RI (LI), die wir wiederfinden in manchen europäischen Flußnamen wie Rhein und Rhone und Rhin, ferner auch in Wörtern wie rieseln und Rinne und Linie, es hat offenbar etwas mit dem Lauf in Zeilen zu tun (wer de-liriert, ist aus der Spur gekommen), literae sind die auf Linien laufenden Zeichen.
Cicero schreibt: Die Literatur besteht aus Buchstaben und aus dem Stoff, in den die Buchstaben eingedrückt sind. Das ist eine schöne, kalt-lateinische Definition: Beschriebenes und Geschriebenes – alles Literatur, die Zeichen und die Steine, die Buchstaben und das Papier, die Grabstele mit dem Epigramm so gut wie die Werbebeilage des Wochenkuriers mit den Angeboten für Haus und Garten.
Stadtführer, Lexikon, Speisekarte, CD-ROM und Mikro-Fiche – alles Literatur, und der Teletext auch und das unendliche Buchstabenall des Internet auch und natürlich das Fernsehgerät, der Monitor, wenn sich Buchstaben auf ihm versammeln dürfen.
Können wir mit dieser Definition etwas gewinnen für unser Thema? Jedenfalls soviel, daß wir auf den ersten Blick erkennen: Nicht alle Literatur in diesem weiten und materialistischen Sinne braucht Hilfe; sogar der größte Teil davon wird als lukrativer Wirtschaftszweig betrieben und ist jeder Form von Unterstützung durchaus unbedürftig: Die Neue Juristische Wochenschrift, die bestürzende Formular-Prosa der Steuer- und Sozialbehörden, die Faltblätter für Heimwerker und Auslandsreisende, Fußballjournale, die hundert Magazine vom gehäkelten Topflappen bis zum Laptop – das alles sind, ob wir es bedauern oder nicht, überaus profitable und lebenskräftige Zweige der Literatur – da ist nicht zu helfen, da brauchen wir keine Rankhilfen, eher schon Heckenscheren.«
XI.
»Wir haben also ein Abgrenzungsproblem. Wir wissen, daß wir nicht jede Literatur meinen, wenn wir fragen, ob das Fernsehen ihr hilft – aber welche wir meinen, das wissen wir noch nicht. Man könnte es mit einer negativen Bestimmung versuchen, indem man etwa sagte: Geholfen werden soll der wirtschaftlich nicht erfolgreichen Literatur.
Darunter fiele sicher mancher experimentelle Roman, die meisten Lyrikbände und philosophischen Essays, wir dürfen sogar sicher sein, fast alle großen Namen der Gegenwartsliteratur mit mindestens einem Werke in diesem Armenhaus versammelt zu sehen. (Von den alten Zeiten ganz zu schweigen, Baudelaire verdiente mit seinen Gedichten insgesamt keine 1000 Francs.) Aber es gibt auch Literatur, deren Niedergang wir gar nicht aufhalten wollen, Bücher, die sich schlecht verkaufen, weil sie schlecht sind; und auch wieder solche, die genial sind und ihrem Autor trotzdem viel Geld bringen. Charles Dickens wurde reich mit seinen Romanen, und der griechische Lyriker Simonides konnte es sich leisten, seine melancholischen Gesänge nur gegen Vorkasse anzustimmen; man sagt, er habe außer der Lyra stets ein hölzernes Geldkästlein mit sich getragen. Kurz-geistige Anspruchslosigkeit ist keine hinreichende Bedingung für wirtschaftlichen Erfolg, und deshalb können wir in literarischen Dingen nichts aber auch gar nichts am cash-flow messen.
Woran aber dann? Ich meine, Literatur, der zu helfen ernsthaft in Rede stehen kann, muß mindestens zwei Bedingungen erfüllen: Sie muß ein Produkt innerer Arbeit sein und auf den inneren Menschen zielen, und sie muß ein Bewußtsein ihrer Ästhetik haben. Es geht dabei wohlgemerkt nicht darum, ob ein Schriftwerk gelungen oder mißlungen ist, es geht um den Anspruch, den es macht. Es kann also sehr wohl die beiden Bedingungen erfüllen und trotzdem mißraten sein. Ein mißlungenes Gedicht ist mir lieber als ein gelungenes Werbeplakat. Das Gedicht will Geist und Seele in Bewegung setzen, unser ästhetisches Empfinden reizen, unsere Nerven berühren; es will etwas Neues ausdrücken, und es will es neu ausdrücken, es will Ausdruck sein. Die in meinem Verständnis nichtliterarischen Texte – es gibt sehr raffinierte darunter – erkennt man daran: Sie wollen nicht Ausdruck sein, sondern Eindruck machen. Sie erinnern sich, was Platon sagte: Die Zeichen – ganz für sich genommen sind tote Gegenstände, auf was sie hindeuten wollen, darauf kommt es an. Die Druckerzeugnisse, die wir hier als nicht hilfswürdig einordnen, die wir also nicht als Literatur im ernsten Sinne betrachten wollen, diese Druckerzeugnisse deuten bei näherem Zusehen immer auf ein und dasselbe hin: Auf Geld. Und das – ich denke, da sind wir uns einig – interessiert uns am allerwenigsten.«
XII.
»Was das Geld betrifft, da bin ich mir nicht so sicher. Sehen Sie. Was nicht veröffentlicht, gedruckt und verteilt ist, geht nicht durch den Literatur-Betrieb; es sind vielleicht trotzdem große Werke in einem idealistischen Sinne unter den Schubladenmanuskripten, aber niemand kennt sie, niemand hat sie je gesehen, diese Gedichte und Romane verharren in einer Existenz, die mindestens so geheimnisvoll ist wie die der Engel.
Zur Literatur gehört aber, daß wir sie körperlich wahrnehmen können, die Literatur ist eine harte, irdische Bildung, kein Engelsballett. Deshalb gehört der Betrieb dazu: Das geht beim Verkäufer in der Papierabteilung des Warenhauses los, und setzt sich fort beim Drucker (nicht zu vergessen der Druckmaschinenhersteller), dem Lektor, dem Verleger, dem Grossisten, dem Buchhändler, dazwischen tummeln sich Vertreter und Fahrer, Packer und Lagerarbeiter, Paketboten und Gewerkschaftsfunktionäre, und alle diese Personen gehören zur Literatur, und ihnen allen hilft das Fernsehen, wenn es der Literatur hilft.«
XIII.
»Nichts gegen Verleger und Händler! Nichts gegen die Kaufleute in den Fernsehanstalten! Die Literaten sollen Geld Geld sein lassen und sich freuen, wenn es Leute gibt, die sich mit einigem Anstand darum kümmern, daß der Rubel rollt. Solange sie nicht gerade Menschen oder Gift verkaufen, soll man den Handelsleuten ihre Wege nicht abschneiden. Nur ein gutverdienender Fernsehsender kann es sich leisten, gelegentlich ein paar Taler für die Literatur fallen zu lassen. Es gilt der Rat, den ein anonymer niederländischer Dichter des 16. Jahrhunderts den Mädchen gab: Laet den coopman wandelen! Und warum? Nun, wenn er gut verdient hat, dann bringt er Geschenke mit: Fraey juweelkens und, für die Dichter sehr viel wichtiger, den wijn veel soeter dan amandelen … Laet den coopman wandelen!«
XIV.
»Warum haben Sie solchen Wert darauf gelegt, den Bereich der hilfswürdigen Literatur so eng abzustecken? Ist das nicht hochmütig, undemokratisch, elitär?«
XV.
»Vielleicht ist es hochmütig usf. Jedenfalls aber ist es notwendig. Denn ich wollte nicht, daß, wie es manchmal vorkommt, eine kleine Ungenauigkeit zu Beginn uns am Ende meilenweit am Ziel vorbeisegeln läßt. Sehen Sie: Wenn Sie einmal darauf achten, welche Art Bücher in Fernsehsendungen empfohlen wird, so werden Sie feststellen, daß es sich gutenteils um Reiseführer oder Rechtsberater oder Anleitungen zum guten Essen, zum gesunden Schlafen, zur Entkrampfung beim Geschlechtsverkehr handelt – oder es dreht sich um Bücher, die offenbar ausschließlich deshalb gedruckt werden, weil ein (meist aus dem Fernsehen) bekannter Name zu Geld gemacht werden soll: Ein Ansager schreibt über Ethik, eine Schauspielerin über Kosmetik mit Gurken, eine Moderatorin über Urin-Therapie, ·ein Fußballer über das Schicksal (»Erst hatten wir kein Glück und dann kam auch noch das Pech dazu«) – ein Blick in die Bestsellerlisten genügt, um festzustellen, daß der größte Teil der verkauften Bücher einem dieser Bereiche entstammt. Ich gebe zu, daß ich das meiste davon, Sie werden den Ausdruck verzeihen, für hundsgemeine und verlogene Scheiße halte, aber selbst, wenn es das nicht wäre, sondern wenn es sich um nützlich oder unterhaltsame Lektüre handelte, so hätte es doch mit Literatur in dem von uns entwickelten Sinne nicht das geringste zu tun; folglich kann man aus dem Erfolg eines solchen Buches im Anschluß an eine Vorstellung im Fernsehen nicht darauf schließen, das Fernsehen helfe der Literatur.
In diesen Fällen hilft das Fernsehen eben nicht der Literatur, sondern allein dem Kaufmann. Und ich meine, es ist falsch, ihm zu helfen, denn er braucht keine Hilfe. Laet den coopman wandelen – gewiß, aber tragen muß man ihn nicht.«
XVI.
»Sie haben einige Personen aus dem Literaturbetrieb nicht erwähnt, und wenn ich mich nicht täusche, handelt es sich da um ziemlich dicke Fische. Es geht um die Personen, die einen ganz entscheidenden Anteil haben, wenn es darum geht, der Literatur zu helfen oder auch ihr zu schaden: Es sind die Professoren und die Kritiker, die Kulturbeamten und die Preisrichter, unter ihnen wiederum sind die für unser Thema interessantesten die im Fernsehen auftretenden Kunstrichter. Sie stehen nämlich auf der Grenze zwischen den beiden Kommunikationssystemen Literatur und Fernsehen.
Ich will ein Bild gebrauchen: Diese Leute sind nicht die Köche im Hause der Literatur, aber sie sind die Vorkoster und die Kellner; diese Damen und Herren probieren, empfehlen und servieren. Ob als Chef de rang oder als Commis d’etage: Der Braten, zu dem sie nicht raten, wird selten bestellt. Manchmal spucken sie sogar in Anwesenheit des Gastes auf den Fisch des Hauses, und wenn der Koch protestiert, behaupten sie, es sei ihre moralische Pflicht so zu handeln, es liege im Interesse des Gastes, ja es sei sogar sein Recht, in aller Deutlichkeit vor dem mißratenen Braten gewarnt zu werden. Wenn der Koch, der, wie die meisten Künstler, hart am Rande der Hysterie wandelt, wenn also der Koch etwas bessere Nerven hätte, so würde er wohl den Kellner verprügeln und ihm sagen: ›Neidischer Mensch! Weil Sie selber so pathologisch phantasielos sind, daß Sie nicht mal ein Spiegelei würzen können, spucken Sie auf meine Meeresfrucht-Kreationen und Fisch-Phantasien. Wenn es nach Ihnen ginge, würde bis in alle Ewigkeit Tiefkühlkost nach den Regeln der Meister von gestern aufgetischt! Und wissen Sie was? Servieren kann fast jeder. Man braucht nicht mehr als eine ruhige Hand und ein blasiertes Gesicht. Kochen, verstehen Sie, etwas erschaffen, was es noch nie gegeben hat, das kann nur ich. Ich wette, die Gäste kämen auch dann, wenn sie ihre Teller mitbringen und in der Küche anstehen müßten!‹
Aber so antwortet der Koch nicht, er ist beleidigt, gekränkt, er weint und kreischt, zerdeppert die Töpfe, schlägt sich die Holzlöffel gegen den Kopf, verflucht sich, und manch einer hätte sich eigenhändig am Löffelhaken erhängt, wenn nicht der Kellner in seiner grenzenlosen Gnade und Herablassung – und vielleicht auch eingedenk des Umstandes, daß die Gäste ausbleiben könnten, von deren Zuneigung und Geld schließlich beide leben, Kellner und Koch – wenn er also nicht sich in letzter Minute bereitgefunden hätte, doch noch das eine oder andere freundliche Wort über die Arbeit des Kochs zu äußern, zum Beispiel, man könne den Braten zwar nicht genießen, aber immerhin essen, und bei der Sauce spüre man, was gewollt, wenn auch – noch – nicht erreicht sei.
… Wenn Sie darauf hinweisen, Schwierigkeiten zwischen Künstler und Vermittler habe es immer gegeben, das sei nicht spezifisch für die Vermittlung literarischer Kunstwerke durch das Fernsehen, dann gebe ich Ihnen Recht. Allerdings meine ich, das Fernsehen verschiebe die Gewichte zugunsten der Vermittler, weil sie vor sehr viel größerem Publikum und in leichter eingängigen Worten ihre Empfehlungen aussprechen als das auf der klassischen Wegen- Zeitung, Fachzeitschrift, Buch und Vortrag – möglich ist. Nehmen Sie hinzu die bunten Bilder, die Bewegung, die ganze professionelle Inszenierung einer solchen Literatur-Show durch ich weiß nicht wie viele Licht- und Schallspezialisten, Kostümbildner, Friseure, Innenarchitekten und animierte Computer – und halten Sie dagegen die notgedrungen kümmerliche Arbeitsweise einer Lyrikerin oder eines Romanciers: immer allein, alles von Hand und einzeln gefertigt, Auftritte sind nicht ihre Sache – wenn wir Berühmtheit, Geld und Massenwirksamkeit zum Maßstab nehmen, dann haben, um auf das Bild vom Literaturbetrieb als Restaurant zurückzukommen, die Kellner endgültig die Macht übernommen. (Über die Abschaffung der Köche wird nachgedacht.)«
XVII.
»Hilft das Fernsehen der Literatur? Ja, ungefähr so wie die letzte Ölung dem Sterbenden.«
XVIII.
»Das Fernsehen hilft der Literatur, indem es sich selbst als ein neues Objekt der Bearbeitung durch die Literatur übergibt. Die Literatur ist bereichert worden durch das Fernsehen. Das Fernsehen ist eine neue Realität und eine neue Groß-Metapher; es tritt an die Seite der Rose und des Herzens, der Sterne und des Schiffs und des Meers. Die Literatur ist ein Meer; dahinein ist das Fernsehen gefallen; schon siedeln sich Muscheln und Korallen an.«
XIX.
»Er ist blind. Sein Inneres ist kompliziert. Aber er weiß nichts davon. Manchmal durchzuckt ihn diese Kraft, deren Wirkungen wir an ihm beobachten, von der wir aber keine wirklich genaue Kenntnis haben. Es ist eine bewegende Kraft, soviel ist sicher, und wer mit ihr in Berührung kommt, sollte sich vorsehen. Manche bezeichnen diese Kraft als übermenschlich. Es ist, als spräche ein anderes Sein durch ihn hindurch. Er ist ein Medium. Wessen Medium? Wer beherrscht ihn? Wer erleuchtet ihn, wenn er vor uns das Bild der Morgenröte mit den Rosenfingern aufscheinen läßt? Wir wissen es nicht. Es ist ein Wunder.
Er hat den besten Platz im Raum. Da, wo ihn alle sehen können. Wenn wir um ihn versammelt sind, haben wir nur noch Augen für ihn. Wir hören ihm zu. Wir sind gebannt.
Wir fühlen uns verzaubert. Wir vergessen unsere Sorgen, wenn er davon schweigt. Wir weinen, wir lachen, wir seufzen.
Sein Geist fährt in unsere Seelen. Wir sind begeistert.
In den Augenblicken, da diese Kraft ihn ergreift, scheint ein Knistern im Raum zu liegen, und diesem Knistern folgt manchmal ein gewisses Rauschen, oft mit unverständlichen Worten gemischt, als müsse sich die Klarheit seiner Rede aus einem Urgeräusch hervorkämpfen, als müsse die Schönheit seiner Bilder sich ausfiltern aus einem Übermaß an Licht, das, wenn es sich rein und unbearbeitet über uns ergösse, uns auf der Stelle erblinden ließe.
Aber er ist stärker als wir, er ist mutiger als wir, er setzt sich dem schrecklichen Andrang aus, dem gewaltigen Wellenschlag jener geheimnisvollen Kraft, der die Armut unserer Sprache Namen wie Gott oder Elektrizität gibt, ohne daß diese Namen uns der Aufdeckung des Mysteriums näherbrächten.
Dann breitet er Bilder vor uns aus: Küsse, Geburten, Schlachten, Feuersäulen, lachende, verzweifelte, sterbende Gesichter, Zorn und Sehnsucht, aber auch Landschaften, Abendgluten, Schneefelder, sterbende Wälder, lebendige Städte, brennende Reifen, Stahltürme, Steindome, Fußballspiele, Boxkämpfe, Redeschlachten – ach die Zahl der Bilder ist unermeßlich, er kümmert sich auch nicht um Raum und Zeit, er läßt uns auf den Flügeln einer Göttin vom Olymp nach Ägypten fliegen, er läßt die Maulwurfshügel von Alabama mit dem Ötztaler Alpenmassiv in eins verschwimmen – und wenn er endet, fühlen wir uns matt und leer, als hätten wir selbst die Götterflügel geschwungen über dem Mittelmeer, den Boxkampf geführt in Kansas City, die Redeschlacht bestanden im spanischen Parlament.
Wir sind entsetzlich müde, wenn der Dichter sein Buch schließt und sagt: genug für heute, mein Mund ist heiß vom Reden. Wir gehen ins Bett, wenn wir das Fernsehgerät abgeschaltet haben, und sein Körper ist noch warm.«
XX.
»Das Fernsehen steht zur Literatur vielleicht m einem ähnlichen Verhältnis wie die Photographie zur Malerei.
Kann man sagen: Die Photographie hilft der Malerei? Kann man so etwas vernünftigerweise überhaupt fragen? Ich meine: Ja. Die Photographie hat gegenüber der Malerei den unbestreitbaren Vorzug, die Welt – im rein realistischen Sinne – genauer und schneller abbilden zu können. Was bedeutet das für die Malerei? Sie wird dieses Feld der Photographie überlassen. Sie wird das zu malen versuchen, was der Photoapparat nicht sieht, sie wird in gewissem Sinne unrealistisch sein, sie wird expressiv sein, abstrakt, sie wird die Dimensionen des Geisteslebens und der Gefühle erforschen, sie wird Gedanken und Träume malen, und ihr Material erkunden; wenn ich mich nicht täusche, dann hat sie das auch vor Erfindung der Photographie getan, allerdings fast immer so, als bilde sie die äußere Welt ab; nun ist sie frei, neue Welten und neue Schönheiten zu erschaffen, die niemand mehr als Nachahmungen der äußeren Welt mißverstehen . kann: Der Kopist hat ausgedient.
Übertragen Sie das auf das Verhältnis Fernsehen und Literatur, und Sie sehen: Das Fernsehen hilft der Literatur; denn es zeigt ihr, was die Literatur schlechter kann als das Fernsehen, nämlich Bilder zeigen, die der äußeren Wirklichkeit zum Verwechseln ähnlich sind. Die Literatur tut also gut daran, diesen Bezirk der Mimesis nur mit großer Vorsicht zu betreten.«
XXI.
»Woraus besteht die Nacht? Die Naturwissenschaft liebt es, Licht ins Dunkel zu bringen. Sie untersucht Dinge, die im Licht sind oder sie rückt Dinge ins Licht, lädt die Dunkelheit der Materie mit Energie auf, um Funken daraus zu schlagen, oder sie untersucht das Licht selbst: Über die Nacht dagegen, über die Dunkelheit selbst weiß sie wenig.
Neulich las ich, daß das All zu über neunzig Prozent aus schwarzer Materie bestehe, deren Gewicht man sogar berechnen könne: Die Nacht wiegt schwer. Sie verhält sich zum Licht wie der Rahmen zum Bild. Ein schöner Rahmen, sagt Baudelaire, ajoute a la peinture … Jene sais quoi d’etrange et d’enchante – was immer wir sehen ist Licht, und es hat seine Fremdheit und seinen Zauber auch von der Schwärze, die es umschließt.
Das Fernsehen kann Dunkelheit nicht zeigen, sowenig wie der Hörfunk Schweigen übertragen kann. Der dunkle Zustand in und außerhalb des Menschen ist die Chance der Literatur. ›Auch das muß man bedenken, daß der erste Teil (des Faust) aus einem etwas dunklen Zustande des Individuums hervorgegangen. Aber eben dieses Dunkel reizt die Menschen, und sie mühen sich daran ab, wie an allen unauflösbaren Problemen.‹ (Goethe).«
XXII.
»Das Fernsehen ist ein Fenster, sagte man früher, ein Fenster zur Welt. Das Fenster steht im Zimmer. Die Welt ist nah und handlich. Ein Kormoran im Wohnzimmer, der Dalai Lama beim Abendessen – ›Nimm mal dein Knie da weg, du versperrst mir die Sicht auf den Kilimandscharo!, Das erinnert mich an den griechischen Philosophen, der, während er im Grase lag, gefragt wurde, wie groß die Sonne sei; er antwortete: ›Etwas kleiner als mein rechter Fuß.‹
Die Welt erscheint in mehrerlei Gestalt. Man weiß nicht genau, ob sie in Wahrheit eine einzige ist und nur ihre Erscheinungen im Fenster wechseln, oder ob sie tausendfach zerteilt ist – vielleicht haben wir es sogar, wie Giordano Bruno annahm, mit unendlich vielen verschiedenen Welten zu tun. Manchmal besteht die Welt aus Wald und Blaskapellen, manchmal aus Kaffeewerbung, dann aus Feuer im Asylheim, meistens aber aus jungen Männern, die nach dem Pausentee wie verwandelt aus den Kabinen kommen und auf dem Rasen ein Feuerwerk abbrennen, sehr selten dagegen aus Literatur.
Wenn sie aus Literatur besteht, dann gibt es drei Möglichkeiten.
Erstens: Die in Fernsehbilder aufgelöste Literatur: das aufgeschlagene Buch. Effi Briest von Faßbinder. Die Bibel von Leo Kirch. Der Tod eines Handlungsreisenden mit Dustin Hoffmann. Zum Beispiel.
Zweitens die Kulturmagazine, in denen Bücher und ihre Autoren vorgestellt werden. Wir sehen eine Frau mit langen, melancholischen Locken ihren außerordentlich geläuterten Blick vorzugsweise über karstige Landwege oder Industrie-Ruinen oder ein Kreuz oder einen zugefrorenen Weiher werfen, und wir hören dazu vielleicht folgenden Kommentar: ›Der 33jährigen Britta N. ist mit ihrem zweiten Buch ein großer Wurf gelungen. Das äußerlich schmale Werk ist eine Parabel, läuternd und erneuernd wie der Tod; sie läßt das Wort dort seine Wirkung tun, wo es mächtig ist.‹ Meistens ist die Stimme des Sprechers bei solchen Filmen ein wenig belegt, ich glaube, es ist die besorgte Stimme des SCHLARAFFIA-Mannes.
Der dritte Bezirk der Literatur-Welt im Fenster besteht in Gesprächen. Das beliebteste deutsche Literatur-Gespräch ist das Literarische Quartett im Zweiten Deutschen Fernsehen. Bis zu einer Million Menschen sehen zu. Das ist wenig verglichen mit Fußball-Reportagen, viel im Vergleich zu den Auflagen literarischer Bücher.
Hilft das alles der Literatur? Es schadet nicht und hält im öffentlichen Bewußtsein, daß es so etwas auch noch gibt: Dichtung, Wahrheit, Form und freies Gelächter zwischen all dem krampfhaft bunten Tüll und Müll.«
XXIII.
»Aus unbegreiflicher Verwandlung stammen diese literarischen Gebilde – Wünsche, Gedanken, Gefühle, Gebäude, Menschen scheinbar aus nichts als Buchstaben und Papier gemacht.
Einen Satz wie, Was gezeigt werden kann, kann nicht gesagt werden.‹ kann man nicht im Fernsehen als ein Bild zeigen. Nicht weil er sinnlos wäre, sondern im Gegenteil, er hat zuviel Sinn. Die sonderbare Stimmung eines Gedichts, oder eine Romanfigur, zum Beispiel Herr Grünlich im erbsenfarbenen Beinkleid und mit einer Träne in den goldgepuderten Favoris – einen solchen Mann kann es nur in der Literatur geben, niemals im Fernsehen. Im Fernsehen müßte er außer dem Beinkleid und den Favoris auch noch Augenbrauen haben, Wimpern, Nase, Ohr, Fingernägel, Stimme, Runzeln, Pickel, braune oder blaue Schuhe, kurz er müßte so komplett sein, daß wir uns nichts mehr hinzudenken könnten. Die Bilder, die wir uns aus den Personenbeschreibungen in Romanen zusammensetzen, existieren allein in unseren Köpfen, und ich bin sicher, daß Buddenbrooks’ Schwiegersohn Grünlich in Ihrem Kopf anders aussieht als in meinem. Und so macht sich jeder Leser sein Bild. Sonderbarerweise leben diese Gestalten trotzdem, ich jedenfalls spreche recht gern mit David Copperfield und seiner Tante Betsey Trotwood.
Die Beschreibung einer Person im Roman ist notgedrungen unvollständig; das Fernsehbild einer Person ist dagegen ebenso notgedrungen vollständig.
Ist es eine Hilfe für die Literatur, wenn das Fernsehen Effi Briest und Wilkins Micawber Esq., Leopold Bloom und Zazie in der Metro ihrer hunderttausend ideellen Existenzen in allen Sprachen und Klimaten der Erde beraubt? Plötzlich hat die Familie Briest nur noch ein einziges Haus und Odysseus ein einziges Gesicht, und das sieht fast aus wie das meines Nachbarn, der ein guter Boxer und im übrigen Kostenbeamter beim Landgericht München II ist. In den Vorankündigungen solcher Literatursendungen heißt es dann gern, der ·Schauspieler S. habe der Romanfigur R. ›Leben eingehaucht‹. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Ich fühle mich meistens desillusioniert – und zwar ausgerechnet durch die Illusion des Fernsehbildes.
Nicht, daß ich etwas gegen solche Fernsehversionen von Romanen hätte, im Gegenteil – nur fuhren sie nicht zum Buch hin, sie sind keine Hilfe für die Literatur, sondern es verhält sich gerade umgekehrt: Die Literatur ist es, die hilft, die Vorwürfe liefert für Stoffe und Personen – und das Fernsehen muß dieses Material in seine helle, schnelle Sprache übersetzen, das ist seine Verwandlungskunst.«
XXIV.
»Sollen wir noch einmal alles durchgehen, das Helfen, das Fernsehen, die Literatur, um zu sehen, ob wir auch nichts vergessen haben? …
Nein, nicht alles, Vollständigkeit ist langweilig. Fügen wir hinzu, was uns gerade noch einfällt, scheuen wir auch nicht die eine oder andere Wiederholung, lernen wir von der Musik. « XXV.
»Das Fernsehen ist a) ein technisches Gerät, b) ein Mediensystem, c) eine Tätigkeit, d) eine Sprache.«
XXVI.
»Die Tätigkeit des Fernsehens, ausgeübt vom Literaturhersteller, kann sie der Literatur helfen? Schreibt jemand bessere Bücher, je mehr er fernsieht? Ich denke, er wird nicht bessere, sondern gar keine mehr schreiben, wenn er viel fernsieht, denn zum Schreiben braucht er Zeit, und Ruhe zum Nachdenken und zum Üben, er muß ja durch hundert Fehlversuche hindurch wie ein Klavierschüler, bis er seinen Ton gefunden hat. Da bleibt nicht viel Zeit zum Zappen. Aber wird denn die Erfahrung des Autors, seine Kenntnis von der Welt nicht verbessert, wenn er möglichst oft einen Blick durch das Fenster zur Welt wirft? Wird er nicht, wenn er die Leiden und Vergnügen seiner Zeitgenossen kennen will, die nun einmal großen Teils mit dem Fernsehen zusammenhängen, wird er, allein am Schreibtisch und mit nichts als Silben und Sätzen beschäftigt, nicht den Zusammenhang, die Gemeinsamkeit der Bilder und Lieder, des Lebensrhythmus und des Wortgefühls verlieren? Sieh überall mit Deinen eigenen Augen, sagte Lessing, und das ist alles, was ich zu erwidern habe. Wer das Fernsehen als Fenster zur Welt betrachtet, sieht eben nicht mit eigenen, sondern mit fremden Augen. Nur wer die Fernsehbilder, und mögen sie sich noch so sehr den Anschein des Realismus geben, nicht mit der Welt verwechselt, sondern sie als Sprache, als Bildersprache – eine Art elektronischer Version der chinesischen Schrift – betrachtet, kann etwas lernen beim Fernsehen.«
XXVII.
»Das Fernsehen, verstanden als Tätigkeit, diesmal aber ausgeübt nicht vom Autor, sondern vom potentiellen Rezipienten – hilft das der Literatur? Ich glaube: Auf Umwegen: Ja. Ich meine damit nicht so sehr die-meßbare und unbestrittene – stimulierende Wirkung von Literatursendungen auf den Verkauf von Büchern. Sie mag eine finanzielle – und durchaus nicht zu verachtende (Laet den coopman wandelen!) – Hilfe für diesen Verleger und jenen Autor und auch eine Freude für den Händler und den Gewerkschaftsfunktionär bedeuten. Aber man darf eben nicht Bücherkaufen mit Bücherlesen verwechseln, und selbst wenn alle die verkauften Bücher auch gelesen würden, wären sie damit doch nicht automatisch auch verstanden worden.
Zwischen 18 und 22 Uhr sitzen an jedem Tag in Deutschland bis zu 30 Millionen Menschen vor einem Fernsehgerät. Was werden sie dort tun? Buddenbrooks lesen? Auf Lektüre -Anregungen warten? Nein, man soll nicht an dem vorbeisehen, was offenkundig ist. Fernsehen ist einfacher als Lesen. Fernsehen geht auch schneller: Kaum ein Spielfilm dauert länger als 100 Minuten, und selbst der geübteste Querleser braucht zehn Mal so lange, um einen Roman mittleren Umfangs zu lesen.
Der Unterschied zwischen Fernsehen und Lesen ist ungefähr dem zwischen Laufen und Autofahren vergleichbar.
Selbstverständlich ist es richtig, daß es eine statistische Korrelation zwischen der Zunahme des Autoverkehrs und der Entwicklung des Verkaufs von Jogging-Schuhen gibt. Gewiß bestehen auch zwischen den Phänomenen Autofahren und Jogging diverse kleinkausale Verknüpfungen.
Unsinnig wäre es allerdings, daraus zu schließen, Autofahren fördere die Fortbewegung auf Füßen. Das genaue Gegenteil ist evident, umgekehrt wird ein Schuh daraus. – Die Wahrheit ist, daß die Lektüre von Literatur als eine Form, Bilder von der Welt zu gewinnen, umständlich, luxuriös, langsam, altmodisch und anstrengend ist – so wie die Fortbewegung auf den eigenen Füßen. Und genau da liegt die Chance: Nicht nur der Körper verlangt nach Bewegung, auch, so altmodisch das klingt, Geist und Seele verlangen danach. Das Fernsehen kann dieses Verlangen nicht befriedigen, weil seine Bilder einerseits zu komplett sind, andererseits nicht in die Dunkelheiten dringen, die unseren Geist reizen. Deshalb macht ausgiebiges Fernsehen, wie Sie sicher schon an sich selbst beobachtet haben, unzufrieden. Wer dieser Unzufriedenheit nachgeht, läuft vielleicht der Literatur in die Arme. Es wäre schön, wenn die Dame dann nicht hochmütig wäre – ich meine, sie sollte den Neuankömmling seine unvermeidliche Verwirrtheit nicht spüren lassen und statt dessen sagen: Wenn er mir jetzt auch nur verworren dient, I So werde ich ihn bald in die Klarheit fuhren. I Weiß doch der Gärtner, wenn das Bäumchen grünt, I Daß Blüt und Frucht die künft’gen Jahre zieren.«
XXVIII.
»Das Fernsehen als Sprache, als Zeichensystem, ist der Literatur zugleich über – und unterlegen. Es liefert die realistischen Bilder, die beim Leser zu evozieren sich Generationen von Romanciers bemüht haben, und es liefert sie reicher, schneller, bunter, kräftiger und genauer als sie je ein Leser in den Vorfernsehzeiten erträumt haben kann.
Zugleich ist es in der Lage, das Zeichensystem der Literatur zu integrieren. Für die Literatur eröffnet sich die Chance, die Sprachen zu vermischen, eine neue Schrift, eine neue Sprache zu erfinden, eine neue Ausdruckswelt zu erschaffen. Wenn Sie schon einmal auf einem der großen kommerziellen Kanäle auf eine Produktion von Alexander Kluge gestoßen sind, dann wissen Sie, was ich meine.«
XXIX.
»Gestern im Radio beklagte ein Schriftsteller den Untergang der Schreibmaschine und den Vormarsch der Computer.
Daß die Buchstaben nicht mehr auf Papier, sondern auf Fernsehschirmen erschienen, daß alles so lautlos zugehe und entmaterialisiert, daß die Tasten des keyboards den Fingerkuppen des Dichters keinen spürbaren Widerstand entgegenbrächten, ganz anders als die gute alte Olivetti – dies alles nehme dem Schreiben seine Qualität als vitale Handlung, es zerstöre die faßbare Bindung zwischen Produkt und Produzent und führe zu Texten von ausschweifender Schludrigkeit. Wissen Sie, für was ich solche Klagen über den Untergang der abendländischen Sonne halte: Für Kitsch! Die alte Olivetti – das ist der röhrende Hirsch des Schriftstellers. Wußten Sie, daß Cicero überhaupt nicht geschrieben hat? Er diktierte! Und zwar seinem Schreibsklaven Tyro, dem Erfinder der Kurzschrift. Ich empfinde alles, was mich beim Schreiben von materiellen Widerständen entlastet, als angenehm.
Diese wunderbaren Textprogramme, mit denen man seine Sätze in Sekundenschnelle durcheinanderwirbeln kann, dieses Schneiden ohne Schere, Kleben ohne Leim – ich nutze es gern und bin weit entfernt, es zu verachten. Übrigens: Wer den Widerstand gegen die Produktion von Gewäsch nicht im Kopfe spürt, dem hilft auch kein Schreibinstrument – er würde selbst mit Stein und Meißel der Logorrhoe erliegen.«
XXX.
»Jetzt sind wir wohl doch, wie man so sagt, ein wenig vom Hölzchen aufs Stöckchen gekommen. Ich habe das Gefühl, meine Gedanken hätten sich im Laufe der Zeilen verirrt, zersplittert, oder sollte ich sagen: In tausend bunte Punkte aufgelöst. Aber das ist ja, wie mir gerade auffällt, immer so, wenn man das Fernsehen ganz nah sieht.«
XXXI.
»Alles läuft in Zeilen: Musik, Literatur, Fernsehen. Aber sowenig die Musik eine Ansammlung von Noten ist, sowenig ist Literatur eine Ansammlung von Buchstaben und Fernsehen eine Ansammlung von leuchtenden Punkten.
Die Zeichen sind nicht das Entscheidende. Warum haben die Steine geweint, als Orpheus sang? Nicht wegen der Noten. Warum sind wir erschüttert, wenn wir die Verteidigung des Sokrates lesen? Nicht wegen der Buchstaben.
Warum rührt uns das Bild Martin Luther Kings im Fernsehen? Dahinter muß eine sonderbare Kraft sein, die sich in Zeichen zeigt und unsere steinernen Herzen verwandelt.«