Liebe auf den ersten Blick (01.01.23)
»A une passante« (An eine Passantin) ist eines der berühmtesten französischen Gedichte. Es entstammt dem Band »Les fleurs du mal« von Charles Baudelaire (1821 bis 1867) und richtet sich an eine Frau, die der Dichter nur ein einziges Mal und nur ganz kurz gesehen hat. Im Getöse einer Großstadt kommt sie auf den vermutlich leicht angetrunkenen Poeten zu, schaut ihn an, hält kurz inne, nestelt an ihrem Rocksaum und geht weiter. Ihre Bewegungen sind nobel, ihre Haltung von majestätischem Reiz. Vielleicht nur für ein, zwei Sekunden treffen sich die Blicke der beiden – lang genug, um dem Dichter die Vorstellung einzugeben, er habe aus dem Auge der Passantin »trinken« können: Diesen »bleichen Himmel … darin Orkane keimen, und eine Süße, die verzaubert, und eine Lust, die tötet.«
Wir nennen solche Begegnungen manchmal »Liebe auf den ersten Blick«. Ein plötzliches, unaussprechlich tiefes Einverständnis, in dem sich körperliches und seelisches Entzücken auf unerklärliche Weise vermischen. Zwei Menschen und ein Stück partizipativer Metaphysik. Sowas passiert und kann zu langfristigen Annehmlichkeiten führen. Im Fall der Passantin und des Dichters bleibt die Begegnung »passager«, wie die Mediziner kurzzeitig auftretende Symptome nennen, ein blitzartiges Ereignis, eine Art Stromschlag, und hinterlässt im Dichter, vielleicht auch in der Passantin, das Gefühl neu geboren zu sein, gemischt mit der tragischen Gewissheit verpassten Glücks. Was damit anfangen? Baudelaire gibt keinen Rat. Dass es solche eigentlich sinnlosen und doch unglaublichen Augenblicke von Geburt, Liebe, Ewigkeit und Verlust entgegen aller Wahrscheinlichkeit wirklich gibt, dass sie sich in die Erinnerung einbrennen können, dass sie ein erlesenes Sonett und seit über einem Jahrhundert immer neue Übersetzungen des Gedichts wert sind, ist vielleicht Botschaft genug.
An eine Passantin
Straßenlärm, ohrenbetäubend um mich her, Krach und Geschrei,
Als eine Frau, groß, schlank und exquisit, in teure Trauer und
Vornehmen Schmerz gehüllt, vorüberging. Mit einer königlichen Geste ihrer
Kleinen Hand hob sie die Rüschen und den Saum des Kleides,
Das sie trug, unmerklich an; so edel die Bewegung und ihr Bein,
Das einer Venusstatue, ward sichtbar. Und ich? Ich trank. Als wäre ich
Verrückt, trank ich den Blick aus ihrem Aug, oh bleicher Himmel, darin
Orkane keimen, und eine Süße, die verzaubert, und eine Lust, die tötet.
Ein Blitz … und dann die Nacht! – Flüchtige Schönheit,
Deren Anblick mich plötzlich neu geboren hat.
Wann sehe ich Dich wieder? In welcher Ewigkeit?
Und wo? Weit weg von hier? Vielleicht niemals und nirgendwo!
Ich weiß ja nicht, wohin du fliehst, du weißt nicht, wo ich hingeh.
O Du, ich hätte Dich geliebt! Du, die es wusste!
Charles Baudelaire: A une passante
La rue assourdissante autour de moi hurlait.
Longue, mince, en grand deuil, douleur majestueuse,
Une femme passa, d’une main fastueuse
Soulevant, balançant le feston et l’ourlet;
Agile et noble, avec sa jambe de statue.
Moi, je buvais, crispé comme un extravagant,
Dans son oeil, ciel livide où germe l’ouragan,
La douceur qui fascine et le plaisir qui tue.
Un éclair… puis la nuit ! – Fugitive beauté
Dont le regard m’a fait soudainement renaître,
Ne te verrai-je plus que dans l’éternité?
Ailleurs, bien loin d’ici ! trop tard ! jamais peut-être!
Car j’ignore où tu fuis, tu ne sais où je vais,
Ô toi que j’eusse aimée, ô toi qui le savais!