Liebe, Geld und Poesie (01.11.19)
Die wenigsten Poeten können von ihren Gedichten leben. Oft liegt das daran, dass sie schlecht bezahlt werden. Manchmal aber auch daran, dass sie zwar genug verdienen, aber ihr Geld verplempern. So könnte es bei dem Londoner Geoffrey Chaucer gewesen sein, der als Begründer der englischsprachigen Poesie gilt und bis heute durch die »Canterbury Tales« berühmt ist. Er lebte im 14. Jahrhundert (um 1342–1400), stammte aus wohlhabenden Verhältnissen, gehörte zum Hofstaat des englischen Königs und verdiente als Zollinspektor seiner Majestät sehr ordentlich. Trotzdem war er chronisch pleite. Er soll sogar einen gegen ihn gerichteten Raubüberfall inszeniert haben, um dem König anschließend durch spektakuläres Opfergebarme Geld aus der Tasche zu luchsen.
Geldmangel ist manchmal derart belastend, dass es unmenschlich wäre, seiner Behebung zu hohe moralische Hürden in den Weg zu stellen. Das steht auf dem einen Blatt. Auf dem anderen steht, gewissermaßen zum Trost, dass Geldmangel auf geheimnisvolle Weise poetische Potentiale frei machen kann. Vor einiger Zeit berichtete eine französische Zeitung von einem Bankräuber namens Michel Masbou, der den Tatort niemals verließ, ohne den – mit der Pistole in Schach gehaltenen – Opfern ein Gedicht vorzutragen, mit Vorliebe eine Stelle aus Ovids Metamorphosen (7, 18), die da lautet:
»si possem, sanior essem,
sed trahit invitam nova vis; aliudque cupido,
mens aliud suadet video meliora proboque
deteriora sequor.«
»ach wenn ich könnte, wär ich ein besserer mensch, doch
mich beherrscht eine neue macht. anderes rät mir
die lust, anderes mir der verstand. ich sehe das gute und will es.
trotzdem tu ich das schlechte.«
Aber natürlich, soweit muss man es auch als poetischer Bankräuber nicht treiben. Es ist ganz einfach nicht fair, die willenlosen Opfer eines Raubüberfalls nicht nur mit der Pistole, sondern auch noch mit lateinischer Lyrik zu traktieren. So tief sollte die Dichtung noch nicht gesunken sein, dass man sie nur noch durch Drohungen mit der Schusswaffe unter die Leute bringen kann. Geoffrey Chaucer jedenfalls ging einen charmanteren Weg, um mit poetischen Mitteln seine leeren Kassen aufzufüllen. Und zwar mit einem Gedicht, das vermutlich das letzte war, das er in seinem Leben schrieb. Es ist nach der strengen Ordnung geschrieben, die Chaucer selbst aus der italienischen und französischen Stanzen-Dichtung entwickelt hat. Die »royal rhymes« haben pro Strophe sieben Verse, fünfhebige Jamben, also zehn Silben, Reimschema: ababbcc. Die Liebesklage, um die es sich bei diesem dreistrophigen Gedicht handelt, ist gerichtet an ein nahezu angebetetes Wesen, dem Chaucer offenbar bis in seine letzten Tage mit einem Gefühl verbunden war, das man schon fast als Hörigkeit bezeichnen darf: Das geliebte Wesen war niemand anderes als – sein Portemonnaie. Zugeeignet ist das Gedicht im Übrigen dem König.
Hier zunächst der mittelenglische Text, an den ich eine von mir angefertigte Übersetzung angefügt habe, die aber eher als eine nur sehr begrenzt formtreue Verständnishilfe gedacht ist.
The Complaint of Chaucer to his Purse
To yow, my purse, and to noon other wight
Complaine I, for ye be my lady dere.
I am so sory now that ye be light,
For certes but if ye make me hevy chere,
Me were as leef be leyd upon my bere,
For which unto your mercy thus I crye
Beth hevy ageyn or elles mot I dye.
Now voucheth-sauf this day er it be night
That I of yow the blisful soun may here,
Or see your colour lyke the sonne bright
That of yelownesse hadde never pere.
Ye be my lyf, ye be myn hertes stere,
Quene of comfort and of good companye,
Beth hevy ageyn or elles mot I dye.
Now purse that been to me my lyves lyght
And saveour as doun in this worlde here
Out of this toune help me thurgh your might
Sin that ye wole nat been my tresorere
For I am shave as nye as any frere;
But yet I prey unto your curtesye,
Beth hevy ageyn or elles mot I dye.
Lenvoy de Chaucer
O conquerour of Brutes Albyoun
Which that by line and free eleccioun
Been verray king, this song to yow I sende,
And ye that mowen alle oure harmes amende
Have minde upon my supplicacioun.
geoffrey chaucer: klagelied an mein portemonnaie
dir und sonst keiner liebstes portemonnaie
klag ich mein leid du süße hohe frau
du bist so dünn das macht mein herz mir weh
nass ist mein aug von salzgem tränentau
nass wie ein blatt im bier oh lady schau
wie laut ich hier um deine güte schrei
nimm zu werd dick sonst kommt mein tod herbei
so eile doch ich brauche dich versteh
mach dass ich dich hübsch klimpern höre
und alle münzenfarben leuchten seh
– ein lichtgesang der engelschöre –
stern meines lebens du auf die ich schwöre
du herrin meines trosts genossin meiner not
nimm zu werd dick sonst bin ich bald schon tot
oh portemoinaie mein liebes lebenslicht
und retterin im irdschen tränental
hilf mir aus kalter not verlass mich nicht
oh wärme schütze ende meine qual
sei hemd und jacke mir und hut und schal
ich fleh und bete aus der tiefsten not
werd dick und fett sonst bin ich morgen tot
zueignung von chaucer
oh herrscher du der britischen nation
durch abstammung und elektion
dies liedchen ich dir untertänig sende
hilf gib mir geld sonst bin ich bald am ende
Links:
https://owlcation.com/humanities/Geoffrey-Chaucers-Complaint-Unto-His-Purse-A-Modern-Translation
https://www.theguardian.com/books/booksblog/2009/feb/02/complaint-chaucer-purse-poetry