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Kleine Reden und Miszellen

Literaturvermittlung im Zeitalter der Digitalisierung

Zweiter Fachtag Literatur des Thüringer Literaturrats im Erfurter Landtag am 25. Oktober 2018


Christoph Schmitz-Scholemann

 


Einführende Bemerkungen

Sehr verehrte Frau Harjes-Ecker, sehr geehrte, liebe Freundinnen und Freunde der Literatur,

seien Sie herzlich willkommen beim 2. Fachtag Literatur im Thüringer Landtag. Mein Name ist Christoph Schmitz-Scholemann, ich bin einer der beiden Vorsitzenden des Thüringer Literaturrates und meine Aufgabe ist es laut Programmzettel, Sie zu begrüßen, was ich soeben getan habe und womit ich meine Rede eigenlich auch schon wieder beenden könnte. Da mir aber signalisiert wurde, ich hätte insgesamt neun Minuten einschließlich Schlussapplaus, nutze ich die Gelegenheit etwas zu unserem übergreifenden Thema zu sagen.

Das Thema lautet: »Literaturvermittlung«. Der Begriff weist auf ein Problem hin. Wenn wir darüber nachdenken, was außer Literatur sonst noch so alles ›vermittelt‹ wird, z. B. Arbeit, Wohnungen, Fußballspieler, Versicherungen, Wetten und sogar Ehen, dann stellen wir fest, dass der Notwendigkeit von Vermittlungsdiensten stets ein Defizit oder ein Ungleichgewicht zugrundeliegt. Entweder will jemand etwas haben, was nicht leicht zu bekommen ist, oder jemand will etwas verkaufen, was er nicht leicht loswerden kann. Bei der Literatur, fürchte ich, ist Letzteres öfter der Fall als das Erstere. Gedichte kaufen ist einfach, sie verkaufen ein Problem; sogar wenn man sie verschenkt, ist man der dankbaren Freude des Beschenkten keineswegs sicher, wie ich schmerzhaft feststellen musste, als ein Lyrikband aus meiner Feder, den ich verschenkt hatte, bald darauf bei E-Bay angeboten wurde und zwar mit dem Hinweis »mit Widmung des Autors, keine Gebrauchsspuren«.

Literatur ist also, vorsichtig ausgedrückt, nicht immer leicht vermittelbar. Bestimmt liegt es manchmal auch daran, dass es sich um schlechte Literatur handelt. Das ist aber keineswegs die Regel. Der große Arthur Rimbaud hat mit seinen Gedichten keinen Sou verdient und jeder von uns kennt Werke der Weltliteratur, die zu Lebzeiten des Autors keinen Absatz fanden. Das heißt natürlich auch wieder nicht, dass alle gutverkauften Bücher schlecht sind. Es heißt nur, dass die Relation zwischen gut und gutverkäuflich in der Literatur besonders unsicher ist.

Das alles ist nun viel zu bekannt, als dass wir allein dewegen einen ganzen Tag darüber sprechen müssten. In den letzten zehn, zwanzig Jahren ist aber etwas hinzugekommen, das nicht nur die literarische Welt, sondern das gesamte Leben und zwar überall auf der Erde, massiv verändert hat. Es ist die Digitalisierung, die den Informationsaustausch, also auch und besonders die Literatur, einer Elektrifizierung, Virtualisierung, Beschleunigung, Bilddurchflutung, Wissenserweiterung, Enthierarchisierung, Globalisierung und mit all dem einhergehend einem Sprachumbruch unterworfen hat, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit seit Erfindung der Schrift noch nicht gegeben hat. Und dieser Umbruch ist nicht von Literaten oder Sprachforschern erfunden oder gesteuert worden, sondern von Technikern, Mathematikern, Physikern und vor allem Geschäftsleuten – wie ja auch die Erfindung der Schrift vor fünfeinhalbtausend Jahren nicht durch Dichterinnen geschah, sondern durch Kaufleute, die Warenverzeichnisse anlegten.

Die Literatur und damit auch die Literaturvermittlung sind von diesen fundamentalen Veränderungen sehr viel tiefergehend betroffen als andere Bereiche des Lebens, vermutlich sogar mehr als von der Erfindung des Buchdrucks. Die Digitalisierung erschüttert die Gutenberg-Galaxie. Niemand weiß, was das Ergebnis sein wird. Die Erfindung des Buchdrucks war ein tiefer Einschnitt, obwohl der Buchdruck an den Sprachen und an den Zeichensystemen der Buchstaben nichts geändert hat, sondern nur an der Form ihrer Materialisierung. Die Digitalisierung ändert mehr: Sie beruht unter der für uns mehr oder weniger verständlichen Oberfläche auf Sprachen, die hier im Raum vermutlich sehr wenige Menschen beherrschen. Das heißt aber zugleich, dass wir, die wir nach wie vor mit unseren Buchstaben auskommen müssen, die Macht über die Zeichen nicht mehr uneingeschränkt haben. Wir merken das spätestens dann, wenn es uns nicht gelingt, gegen den erbitterten Widerstand eines Rechtschreibprogramms ein Gedicht in Kleinbuchstaben mit unorthogaphischer Schreibung ins Smartphone zu tippen. Aber auch in der Schreiboberfläche machen sich neue Zeichen breit, Hashtags, Smileys, slashs. Das ist gar nicht mal so nice. Womit ich einen zarten Hinweis darauf verbinden will, dass sich die Sprache der jungen Menschen, die weder einen Füllhalter benutzen noch das Zehnfinger-Schreibmaschinensystem, dafür aber mit zwei Daumen schneller ihre infos sharen als ich zum Beispiel speaken kann, massiv verändert gegenüber unseren Sprachgewohnheiten. Der französische Philosoph Michel Serres, der inzwischen 87 Jahre alt ist, nennt die jungen Menschen deshalb mit durchaus liebevoller Ironie »Däumlinge« und »Mutanten«: »Mutanten« deshalb, weil nach seiner Meinung die geänderten technischen Vorausetzungen eine – auch in die Gene wirkende – Veränderung des Lernens, Denkens und Sozialverhaltens mit sich bringen. Serres ist aber weit davon entfernt, die jungen Leute zu verurteilen und eine Rückkehr in die alten Muster zu empfehlen. Es war nämich früher, sprich, als man noch orthographisch fehlerfreie Briefe schrieb, in Bibliotheken nach Wissen suchte, Latein und Griechisch lernte und Die Glocke auswendig konnte – früher war durchaus nicht alles besser. Vielmehr haben z. B. in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert unter Geltung des Humboldtschen und Stein-Hardenbergschen Gymnasialsystems die deutschen Eliten grausame und verbrecherische Kriege und Gewaltherrschaften hervorgebracht. Und auch die belgischen, französischen und englischen Kolonisierungen in Afrika wurden von Menschen betrieben, die genauso gebildet wie brutal waren. Die Gutenberg-Galaxie war nie eine Idylle.

Vor diesem Hintergrund ist es an der Zeit, über die Chancen zu sprechen, die wir haben, den gewaltigen Umbruch, mit dem wir es zu tun haben, nicht zu beweinen, sondern zu verstehen lernen und nach Kräften gut zu gestalten. Das ist der Sinn unseres Unterfangens.

Christian Müller wird uns zeigen, wie man digitale Medien nutzen kann, um Schülern die Welt der Literatur zu öffnen, Anna Luise Erler wird über ihre Arbeit als Buchhändlern in einer kleinen Stadt sprechen, Harald Welzer wird die Veränderungen der Debattenkultur unter dem Einfluss der Digitalisierung beleuchten, Guido Naschert die kreativen Potentiale beschreiben, die Poesie und digitale Filmkunst freisetzen, Gerhard Pfennig die für Schriftsteller und Literaturvermittler wichtigen rechtlichen Aspekte der Digitalisierung behandeln und Jürgen Wiebicke sollte davon erzählen, wie man philosophische Literatur unter heutigen Bedingungen an großes und an kleines Publikum erfolgreich vermitteln kann. In einer Abschlussrunde wird Christian Müller mit Monika Rettig, Andreas in der Au und Ralph Schönfelder Vermittlungskonzepte diskutieren. Durch den Tag führen wird uns Blanka Weber.

Ausgetüftelt und organisiert haben das Ganze der Geschäftsführer des Thüringer Literaturrates Jens Kirsten zusammen mit Sylvie Knoblich und Ursula Heinemann in der Thüringer Staatskanzlei. Bei allen Beteiligten bedanke ich mich ganz herzlich, bei der Staatskanzlei auch dafür, dass sie das nötige Geld aufgebracht hat und freue mich nun sehr, dass Frau Harjes Ecker-Ecker uns die Ehre erweist, einige Worte aus Sicht der Landesregierung an uns zu richten.


Schlusswort

Blanka Weber hat mir gesagt, es wäre gut, wenn am Ende einer solchen Tagung noch ein Schlusswort gesprochen wird. Ich glaube, sie hat recht, es gehört sich so und ich nehme gern diese Gelegenheit wahr, um allen Referentinnen und Referenten und dem überaus lebendigen Publikum für die Mitwirkung, für ihr Engagement ihre Vorträge und Debattenbeiträge sehr herzlich zu danken. Und auch Ihnen, liebe Frau Weber, Dank für die feinfühlige, stringente und wohlunterrichtete Moderation!

Was den Gehalt dessen betrifft, was wir heute gehört und besprochen haben: Bei dem Reichtum und der Vielfalt an Gedanken und Informationen und auch an sehr unterschiedlichen rhetorischen Temperamenten, die wir heute kennen gelernt haben, wäre es vermessen, irgendeine Art von Zusammenfassung zu versuchen. Lassen Sie mich statt dessen mit zwei Überlegungen schließen, die mir in den letzten Wochen und auch heute wieder durch den Kopf gingen.

Die eine lautet: Wenn es richtig ist, dass durch die Digitlisierung fast alles Wissen der Menschheit nach und nach frei zugänglich ist im Netz, und zwar überall und jederzeit (außer bei Stromausfall), wozu braucht man überhaupt Leute, die Unterricht geben, etwas vorlesen, Vorträge halten, diskutieren? Hätten wir das heute nicht alles auch virtuell abwickeln können? Als interaktiven Massen-Online-Kurs? Ich glaube, das wäre nicht dasselbe gewesen. Aber warum nicht? Ich glaube, die wirkliche, reale, handfeste Welt ist stärker und sie wird bleiben. Ich denke an das, was Annaluise Erler heute morgen gesagt hat über das Erfolgsgeheimnis ihrer Buchhandlung in Tharandt, nämlich das Schaffen von emotional greifbaren Erlebnissen und Bindungen in geschlossenen sprich analogen körperlichen Räumen, oder in den Worten Harald Welzers: Es geht um »Widerfahrnisse«, der Philosoph würde vielleicht von »Kontingenz-Erfahrung« sprechen – und davon haben wir heute eine Menge gehabt. Jedenfalls sind die Vorträge und die Diskussion ein Beweis dafür, dass es einen riesigen Unterschied gibt zwischen dem Wissen als einer Ansammlung von Zeichen einerseits und andererseits Menschen, die diesem Wissen durch ihr gesprochenes Wort, durch ihre Gestik und Mimik eine spezifische Färbung, einen Zusammenhang, ein Leben, eine Richtung, eine Wahrhaftigkeit, kurz gesagt: Subjektivität geben. Es ist auch ein Unterschied, ob man irgendwo einsam vor einem Display sitzt oder in einem echten euklidischen Raum zusammen ist unter Menschen, die akustisch, optisch, haptisch, olfaktorisch aufeinander wirken, applaudieren, kritisieren, dazwischenrufen, murmeln, sich räuspern und soweiter.

Kurz gesagt: Je größer und unübersichtlicher der Bestand an zugänglichem Wissen ist, umso mehr kommt es auf die Umstände der Vermittlung und die Subjektivität der Vermittler an. Ich glaube jedenfalls, dass Literaturvermittlung nur gelingen kann, wenn die Vermittler sich auf ihre Erfahrung und ihr Fingerspitzengefühl verlassen, auf ihre Gewitztheit und schlechthin alles das, was man früher Esprit oder Geist, vielleicht auch Instinkt genannt hat und sich nicht dem großen Narrativ der Algorithmen unterwerfen.

Die zweite Überlegung entnehme ich dem Werk des kanadischen Philosophen Marshall McLuhen, der vor einem halben Jahrhundert, als die Literaturfreunde von der Furcht vor Radio, Fernsehen und Film umgetrieben wurden: »Wenn eine neue Technologie … unsere Sinne in die soziale Welt ausdehnt, werden sich neue Verhältnisse zwischen allen unseren Sinnen ergeben. Dies ist vergleichbar mit dem Hinzufügen einer neuen Note zu einer Melodie. Wenn sich die Verhältnisse der Sinne in irgendeiner Kultur ändern, wird das, was vorher klar war, trüb werden, und was unklar oder trüb war, wird durchsichtig werden.«

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