Lust und Kunst
Rede zur Eröffnung der Ausstellung »Lust im Silo« in der Galerie »Alte Straßenmeisterei« in Sömmerda am 1. Oktober 2016
Christoph Schmitz-Scholemann
»Lass uns lieben, denn die Sonne geht unter
und wieder auf und bald vergeht uns ihr kurzes Licht,
und ewige Nacht führt uns den Schlaf herbei …«
Torquato Tasso,
italienischer Dichter der Renaissance-Zeit
(1544 bis 1595)
Sehr verehrte Frau Fundele, sehr geehrter Herr Bartsch, lieber Roger Bonnard, lieber Walter Sachs, liebe Freunde der Lust und der Kunst und der alten Straßenmeisterei hier in Sömmerda,
»Lust im Silo« heißt die heute zu eröffnende Ausstellung. Ich komme gleich darauf zu sprechen. Zuerst will ich mich kurz vorstellen, da die meisten hier mich nicht kennen werden. Mein Name ist Christoph Schmitz-Scholemann und ich bin heute Abend als Laudator eingeladen.
Das ist sehr ehrenvoll für mich, allerdings besteht ein kleines Problem: Ich habe keinerlei fachliche Beziehung zur bildenden Kunst. Die bittere Wahrheit ist, ich bin Jurist von Ausbildung, Literat aus Leidenschaft und ganz ungebildet in Kunstgeschichte und Bildtheorie. Erwarten Sie also bitte von mir keine kunstwissenschaftliche Abhandlung über die Deutung erotischer Ikonographie von Platon bis Sigmund Freud und Daniela Katzenberger oder die Venus von Milo im Lichte der Spätaufklärung, den Phallus in der spätetruskischen Keramik oder das kürzlich in der Schirn ausgestellte Werk: Selbstportrait als Essig-Gurke – Identitätsbildung und Ichfindung in der Postmoderne. Also zu dem von Walter Sachs so genannten »Kunst-Duddel-Duddel« bin ich nicht fähig. Mein Verhältnis zu Bildern und Skulpturen ist vollkommen naiv, nicht vernunftgesteuert, sondern lustbetont. Und ich glaube allen Ernstes, dass das ein guter Zugang zu Kunstwerken ist und zwar deshalb, weil die Lust, wie ich gleich zu belegen versuchen werde, eine der Haupttriebkräfte bei der Entstehung von Kunst ist. Aber was ist überhaupt Lust?
Wenn wir unsere Sprache befragen, so stellen wir fest, es gibt tausend Arten von Lust. Schaulust, Wanderlust, Mordlust, Rauflust, Sauflust, Kauflust, Esslust, Spottlust – der Mensch hat die erstaunliche Fähigkeit fast alles, was er tut, das Gute wie das Schlechte, mit Lust zu tun. Heute blenden wir aber die negativen Triebe aus. Denn schon ein kurzer Blick auf die Exponate zeigt uns: Wenn wir von Lust sprechen, können wir von Vögeln nicht schweigen. Genauer gesagt, von australischen Gelbnacken-Laubenvögeln, Sie werden gleich sehen, warum diese Tiere von besonderem Interesse sind für die Kunstlust.
Zuvor noch dies: An den Vögeln oder wie es früher so nett hieß, an unseren gefiederten Freunden, lässt sich leicht der offenbar allem Lebendigen eingeschriebene innige Zusammenhang zwischen Lust und Kunst studieren. Wir wissen, dass die Nachtigall und die Amsel ihre Lieder nicht einfach so vor sich hinsingen, sondern damit akustische Botschaften versenden, mit denen z. B. Partner herbeigerufen werden sollen. Wenn ich Partner sage, dann meine ich vor allem Partner für das Liebesspiel. Es ist zwar nicht Frau Nachtigall, die so schön singt wie kein Mensch es kann, es ist Herr Nachtigall, der, ich zitiere aus einem Lexikon, »zur Anlockung einer Brutpartnerin« seine »Bravourarien« vorträgt, bis in den Mai nur nachts, ab Juni, wenn er so etwas wie erotische Torschlusspanik empfindet, sogar tagsüber. Dass es sich hier nach menschlichem Maßstab um hohe Kunst handelt, unterliegt keinem Zweifel: Jede Nachtigall hat ein Repertoire von rund 200 Liedern zu bieten. Die Parallele zu uns Menschen, bei denen ebenfalls die Liebeslust eine Haupttriebkraft bei der Produktion von Liedern und Gedichten bildet, ist zu auffällig, als dass sich dieser Umstand übersehen ließe. Warum sang Orpheus? Aus Liebe. Warum David? Aus ebendiesem Grund. Und Rainer Maria Rilke schrieb über die Poesie:
In den Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unbekannten Taube ruft.
Aber gilt das auch für die bildende Kunst? Ich glaube ja, und komme wieder auf den sericulus chrysocephalus zu sprechen, den australischen Gelbnacken- oder Goldkopf-Laubenvogel. Er ist nämlich stimmlich vollkommen unbegabt, die Geräusche die er von sich gibt, sind rau und arhythmisch, eher ein Schnarren als ein Gesang, aber er ist doch der größte Künstler unter den Vögeln.
Er heißt Laubenvogel, weil er zum Empfang der weiblichen Zielpersonen einen regelrechten Laubengang errichtet. Er steckt zarte Zweige in Spalierordnung in die Erde und zwar in zwei Reihen, so dass ein Gang entsteht, und zwar in Nord-Süd-Richtung. Wenn er seinen ein oder zwei Meter langen Gang fertig hat, ist aber seine Arbeit noch lange nicht getan. Er verziert den Laubengang mit Blüten und achtet dabei auch auf ansprechende Muster und auf die Farben. Eine besondere Vorliebe hegt er für die Farbe der Sehnsucht, also Blau, er ist aber flexibel, wenn Blau bei seine Zielperson nicht in Mode ist, kann er es auch in Rot. Er hüpft und fliegt also umher, bis er genügend Blüten gefunden hat, mit denen er die Zweige oder auch den Boden des Ganges auslegt. Wenn der Vogel in der Nähe menschlicher Ansiedlungen lebt und keine Blüten findet, verwendet er anstelle der Blüten Zivilisationsreste: bunte Wollfäden, Strohhalme, schrillfarbene Plastiketikette, Glasscherben, Metallstücke: Er macht buchstäblich aus allem Kunst – wir denken natürich an objet-trouvé-Kunst, an ready made und Fettecke, Marcel Duchamps und Beuys, kommen aber noch einmal zurück zum Laubenvogel. Denn es kann passieren, dass er weder Blüten noch bunte Abfälle zur Hand hat. In diesem Fall, und das ist dann wirklich erstaunlich, wird er zum Maler. Was jetzt kommt, habe ich wieder aus einem Lexikon: Das Männchen nimmt ein Bündel Blätter in den Schnabel und trägt mit diesem »Pinsel« Farbstoffe von Blättern und Früchten, die er mit Speichel vermischt, auf Holzstücke auf. Der Speichel und die Farbe fließen von der faserigen Bürste ab, die das Männchen quer im Schnabel hält und an den Holzstücken auf und ab reibt. Wenn er fertig ist, räumt er die nicht verwendeten Reste weg und wartet. Nähert sich nun weiblicher Besuch, so beginnt der Vogel zu tanzen, keucht und hechelt wie verrückt, stellt sich am Südende des Laubenganges auf und spreizt das gelb und schwarzviolett leuchtende Gefieder, so dass er, vom Gold der Sonne umflossen, wie ein junger Gott dasteht. Tanz, Architektur, Malerei, Blumenbinderei und Holzschnitzerei – ein Gesamtkunstwerk im Dienste der Liebeslust.
Ich will nicht so weit gehen zu behaupten, man könne menschliches Kunstschaffen allein auf das Wirken erotischer Triebkräfte zurückführen. Mit Sicherheit liegen die Dinge komplizierter. Es mag sogar kunstlose Lust geben, obwohl wir ja nicht nur von der Kunstliebe, sondern auch von der Liebeskunst sprechen. Jedenfalls eine lustlos hergestellte Kunst, die den Namen verdient, kann ich mir nicht vorstellen.
Ich will noch kurz auf einen politischen Aspekt der Lust zu sprechen kommen. Bitte nehem Sie es mir nicht übel, dass ich auch diesen Aspekt mit einem Beispiel aus der Tierwelt illustriere. Es geht um das Sozialverhalten der Bonobo-Affen. Es handelt sich um Zwergschimpansen, also Menschenaffen. Nein, besonders musisch veranlagt sind sie nicht. Ihre Stärke liegt woanders, sie haben nämlich eine im Tierreich sehr seltene Art der Konfliktbewältigung entwickelt. Kommt es zu Streitigkeiten um das Futter oder um Revierabgrenzungen, so regen sie sich auf wie alle anderen Lebewesen, wählen aber zum Spannungsabbau meist nicht die Schlägerei, sondern die Kontrahenten bieten sich einander zum Sexualverkehr an, dabei kennen sie nahezu keine Grenzen, weder des Alters noch des Geschlechts noch in der Wahl der Stellungen.
Ich hoffe Sie bemerken, worauf ich hinauswill: Die Liebeslust, das Glück des Körpers und der Seele, ist das schönste Geschenk, das uns die Natur, vielleicht sogar Gott, gegeben hat. Warum? Weil wir leben sollen, weil das Leben gut ist und weitergehen soll. Könnten wir die zerstörerischen Aggressionen, deren Vorhandensein in der condition humaine wir nicht leugnen können, öfter in sexuelle Energien umwandeln, wie schön wäre das! Ich stelle mir vor, eine abendlich im Fernsehen feindlich geifernde Talkshowrunde würde sich plötzlich verwandeln in ein wildes hemmungsloses Liebesgelage –
Ich sagte eben, es gibt keine lustlose Kunst. Und ich glaube, gerade deshalb ist auch das Anschauen selbst eine Lust. Die Kunstwerke, die in dieser Ausstellung versammelt sind, zeigen uns, mal explizit, mal eher metaphorisch, Momentaufnahmen exstatischen Lustglücks ebenso wie verhaltener, träumerischer Freuden und Sehnsüchte, immer aber pralles genussvolles, körperliches und seelisches Leben. Ich will das nicht näher beschreiben: Sie haben ja alles vor Augen: Von der wundervoll zarten Melancholie von Roger Bonnard – denn natürlich gehört auch Wehmut zur Lust – bis zu dem elektrophallokratischen Prachtstück im Sicherungskasten, das Walter Sachs geschaffen hat.
Dass sie uns diese Lust gewähren, dafür loben wir Walter Sachs und Roger Bonnard, deren Lebensläufe und Verdienste im Ausstellungsflyer nachzulesen sind, wir loben Rositha Fundele und Olaf Bartsch, dass sie diese Galerie in der Alten Straßenmeisterei in Sömmerda betreiben und sie für diese Ausstellung geöffnet haben – dass sie das alles mit Lust und Liebe tun, dafür sind sie nicht hoch genug zu preisen. Es hat sich ja inzwischen bis nach Berlin ins Bundespräsidialamt herumgesprochen, weswegen Rositha Fundele am kommenden Montag in Dresden von Joachim Gauck ausgezeichnet für ihr wahrlich segensreiches Wirken werden wird. Herzlichen Glückwunsch dazu. Und damit es nicht beim Loben und Preisen bleibt, wünschen wir den Künstlern und den Galeristen auch regen Umsatz – denn wir müssen uns der Lust an weltlichen und geldlichen Freuden keinesfalls schämen.
Danke für Ihre Geduld und Prosit!