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Einführende und abschließende Worte zu Lyriklesungen (01.09.20)

In den letzten 15 Jahren fiel mir immer wieder die Aufgabe zu, Lyriklesungen einzuleiten und am Schluss noch ein paar Worte zum Ausklang zu sprechen. Das war eine schöne und ehrenvolle und immer wieder neue Erfahrung;  auf jeden Fall für mich, weil ich Gedichte liebe. Es war aber auch eine Herausforderung. Denn Lyriklesungen stehen unter dem Verdacht, dem literarischen Hochland anzugehören, was auch bei Freundinnen und Freunden der Literatur nicht jedermanns Sache ist. Es stellt sich da sehr leicht eine allzu weihevolle Stimmung ein, was sich u. a. darin äußert, dass die Zuhörer frühzeitig die Augen schließen, um sich dem »Inemuri«  hinzugeben, also jener Kulturtechnik des öffentlichen Nickerchens, die angeblich von japanischen Managern erfunden wurde und bei der die Wahrnehmung der Umgebung gerade soweit erhalten bleibt, dass Anwesenheit unbezweifelbar ist und durch Applaus an der richtigen Stelle sowie zumindest scheinbar sachdienliche Fragen nach Ende des Vortrags unter Beweis gestellt werden kann. Wer je den Loriot-Sketch über die Wasserglaslesung gesehen hat, weiß, wovon ich rede. Bei dem Versuch, dieser Atmosphäre etwas entgegenzuwirken, haben sich im Laufe der Jahre das folgende Eingangswort und die Schlussbemerkung gut bewährt. Zur Schlussbemerkung muss ich voranschicken, dass ich sie hier in ihrer vollständigen Fassung wiedergebe, zu der ein Gedicht von Wulf Kirsten gehört. Es trägt den Titel »stille«. Es ist vielfach veröffentlicht worden, auch in der Wochenzeitung »DIE ZEIT« und in der »Thüringer Anthologie«, weshalb ich es für vertretbar halte, das Gedicht hier für die nächsten 14 Tage wörtlich wiederzugeben.

1. Einführende Worte zu Lyriklesungen

Gedichte anzuhören ist mindestens so anstrengend wie Gedichte zu schreiben. Deshalb möchte ich Ihnen, liebes Publikum, meine besondere Anerkennung zollen, dass Sie sich hier hingesetzt haben! Und ich will Sie auf Folgendes aufmerksam machen. Poesie ist das Reich der Freiheit. Niemand kann Dichterinnen vorgeben, wie sie schreiben sollen. Es hat aber auch niemand das Recht, Besuchern von Lyrik-Lesungen vorzuschreiben, wie sie zuhören sollen. Sie dürfen also weinen, wenn Sie gerührt sind, lachen, wenn Ihnen zum Lachen ist, und wenn Ihr Mobiltelefon plötzlich zu jammern oder zu jauchzen beginnt, dürfen Sie es selbstverständlich zum Schweigen bringen, und wenn Sie schließlich zwischendurch einen Moment geistig abschalten müssen, weil der schöne Klang der Worte Sie sanft einzulullen beginnt, dann dürfen Sie auch dieser Neigung nachgeben und sich einen kleinen Wachtraum gestatten. Man muss, ja man kann bei Lyrik nicht alles in einem linearen Sinn wie einen mathematischen Beweis denkerisch nachvollziehen. »Auch Denken kann der Gesundheit schaden«, sagt übrigens Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik. Und Gedichte sind zu einem guten Teil aus Traum und Schaum, aus Stimmungen und Stimmen gemacht. In diesem Sinne gute und entspannte Unterhaltung.

2. Worte zum Ausklang von Lyriklesungen: Stille zum Schluss

Was, das fragen wir uns am Ende dieser poetischen Stunde, ist eigentlich das Besondere an Gedichten. Oder hat sich die Frage längst erledigt? Ist Poesie eine Sache von gestern, ein verlorener Posten? Man sagt ja, es werden heute keine Gedichte mehr gehört, gelesen und gelernt. Aber das ist absolut nicht wahr. Kinder und Jugendliche lernen ungebeten jede Menge gereimte und rhythmisierte Texte auswendig. Fragen Sie nach Sido und Kollegah – und Sie werden Wortsprudel über sich ergehen lassen müssen, viel Gereimtes, wenn auch nicht immer das Licht der Sterne. Man kann von Rap-Texten halten, was man will: Dass die jungen Leute etwas gegen Aussagen in gebundener Sprache hätten, ist einfach Quatsch. Sie sehnen sich danach, sie lieben ihre Gedichte, wenn es auch andere sind als die im Lehrplan herrschende Sorte. Und irgendwann werden sie vielleicht Goethe und Benn und Walther von der Vogelweide und Ringelnatz entdecken und vermutlich auch Wulf Kirsten. Er ist einer der bedeutendsten Lyriker der Gegenwart, ein preisgekröntes Haupt. Sein Gedicht »stille« passt sehr gut zu dem Besonderen, was Gedichte ausmacht. Jedes Gedicht ist eine Einladung zur Konzentration des Geistes, eine Einladung zum Zuhören. Der entscheidende Moment ist die Sekunde, bevor das Gedicht anfängt und die, die vergeht, wenn es aufgehört hat. Es ist der Augenblick, in dem wir der Stille zuhören: Sie umschließt den Raum, in dem wir eigentlich leben.  Dieser Raum ist hier an diesem Ort, aber es ist trotzdem ein universaler Raum, es ist der Raum unserer Gedanken und Gefühle. Sie allein geben dem, was wir sehen und hören und wollen und tun, einen Sinn. Und nur weil es diesen von Stille umhegten Raum gibt, lohnt es sich zu reden. Wie heißt es in der Apostelgeschichte: Wir können’s ja nicht lassen, von dem zu reden, was wir gesehen und gehört haben. 

Wulf Kirsten

stille

wenn es der stille endlich gelingt,
ungestört zu sich selbst zu kommen,
hörst du, wie sie plötzlich zu summen
anhebt, weiß ich, wie lange sie
brauchte, sich dieses imaginäre summen
auszudenken, äußert welthaltig
für jene, die ihr zuzuhören und sie
zu vernehmen bereit sind, du irrst,
wenn du meinst, dies sei doch recht
beiläufig, wenn nicht gar bloß
einbildung, nein, erst so wird
alles wesentliche, was dich umgibt
und dich ausmacht, in dieses unablässige
summen eingewoben und bildet textur,
es fragt sich nur, wer noch wollte
und sollte das überirdische hören,
alle ohren verstöpselt, alle blicke
weltab gerichtet auf smartphones,
die dazu verhelfen, nicht mehr gewahr
zu werden, die sie umfangende welt.

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