Marizibill
Für Martin Roeber
»Maritzebill« ist eine im Kölner Dialekt geläufige Variante des weiblichen Vornamens »Maria-Sibylle«. Ich glaube, es gibt heute nicht mehr viele Frauen, die so heißen. Trotzdem ist der Name Maritzebill aus dem kölschen Kosmos keineswegs entschwunden. Es ist nämlich nach wie vor der Name einer wichtigen Nebenfigur in den Komödien des seit 1802 bestehenden und bis heute blühenden Stock-Puppen-Theaters »Hännesche« (das »ch« ist als stimmloser palataler Frikativ – Vordergaumenlaut – zu sprechen, wie in »Milch«).
»Marizibill« ist ein Gedicht des französischen Dichters Guillaume Apollinaire (1880–1918). Ob Apollinaire, der 1901 und 1902 im Rheinland lebte und Köln kannte, auch das »Hänneschen-Theater« besuchte, scheint nicht sicher zu sein. Aus dem Titel seines Gedichts wissen wir aber, dass ihm die eine oder andere kölsche Version von Maria-Sibylle aufgefallen sein muss. Das Gedicht beginnt auf der Hohen Straße, die auch heute noch vom Dom aus dem schnurgerade angelegten Weg einer alten Römerstraße nach Süden (Richtung Bonn) folgt. Heute ist die Hohe Straße eine ziemlich uninteressante Fußgänger-Einkaufszone und von den Fußgänger-Einkaufszonen in Bottrop oder Leipzig kaum zu unterscheiden, nur enger und voller ist sie wohl. Hier, im heute betonfesten Herzen der Stadt, muss es zu Apollinaires Zeiten anders zugegangen sein. Jedenfalls ist die Marizibill des Gedichts eine asiatische Bordsteinschwalbe, die von einem windigen Mädchenhändler in Köln auf den Strich geschickt wird.
Marizibill (Französisch)
Dans la Haute-Rue à Cologne
Elle allait et venait le soir
Offerte à tous en tout mignonne
Puis buvait lasse des trottoirs
Très tard dans les brasseries borgnes
Elle se mettait sur la paille
Pour un maquereau roux et rose
C’était un juif il sentait l’ail
Et l’avait venant de Formose
Tirée d’un bordel de Changaï
Je connais des gens de toutes sortes
Ils n’égalent pas leurs destins
Indécis comme feuilles mortes
Leurs yeux sont des feux mal éteints
Leurs coeurs bougent comme leurs portes
Maritzebill
Auf der Hohen Straße in Köln am Rhein
Da lief sie am Abend auf und ab.
Die süße Kleine blieb nie lang allein.
War sie müde, trank sie Bier in der Stadt,
In dunkle Kaschemmen kehrte sie ein
Und legte sich flach auf Stroh und Heu
Für einen Luden, der kam aus Formosa –
Und sie aus einem Puff in Shanghai.
Sein Haar glänzte rötlich bis rosa
Und er stank erbärmlich nach Knoblauchbrei.
Ich kenne Leute, Mann, Frau oder Kind,
die kaum etwas wissen von ihrem Geschick
und entschlusslos wie tote Blätter sind,
mit halb erloschener Glut im Blick
und Herzen wie Flügeltüren im Wind.
Besonders beeindruckend, weil recht überraschend, finde ich den Umschwung von den ersten beiden zur letzten der drei Strophen. Während es anfangs auf eine fast ein wenig satirische Milieustudie hinauszulaufen scheint, mündet das Gedicht am Ende in eine feinfühlige und melancholische Betrachtung über menschliche Verlorenheit. Um diese Wirkung nicht zu zerstören, habe ich den Zuhälter nicht, wie im französischen Text als »Juden, der nach Knoblauch stinkt« (»un juif il sentait l’ail«) auftreten lassen. Der für das Empfinden unserer Tage skandalöse Klang dieser Worte, der damals von Apollinaire sicher nicht beabsichtigt war, würde, wie ich glaube, die zarte Gefühlslage der letzten Strophe gewissermaßen »überschreien«.
Im Ersten Weltkrieg war Apollinaire Soldat, wurde schwer verwundet, erhielt eine Tapferkeitsmedaille und arbeitete ab 1917 in der Zensurabteilung des französischen Verteidigungsministeriums. Anfang 1918 erkrankte Apollinaire, gesundete wieder, heiratete seine Krankenschwester und starb vor ziemlich genau 102 Jahren, am 9. November 1918, an der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete und nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 50 Millionen Menschenleben forderte, drei Mal soviele wie der Erste Weltkrieg.
Quelle/Lizenz: Urheber PRA Februar 2007