Masken mit Augen (15.01.22)
Gastbeitrag von David Schmitz, B.Ed.
Wenn man eine Sprache lernen möchte, die nicht Latein oder Altgriechisch ist, schaut man denjenigen, die sie sprechen, auf die Augen? Ja, das auch. So kann man gut erkennen, ob das Gegenüber mit einem selbst oder mit jemandem anderen spricht. Abgesehen davon aber erkennt man mit dem Blick auf die Augen nicht viel von der Körpergestalt des Wortes. Um sie zu erfassen, schaut man auf den Mund.
An der Schule, an der ich seit Dezember letzten Jahres 20 Stunden die Woche als Vertretungslehrer tätig bin, ist das derzeit nicht möglich. Es gilt die Maskenpflicht im Unterricht, im Hausflur und auf dem Pausenhof. Das hindert Aerosole daran, sich in den kühlen Klassenräumen ungehindert auszubreiten. Es vermeidet, davon ist ebenfalls auszugehen, weitere Übertragungen der tückischen Varianten von SARS-CoV-2: Delta und Omikron.
Lustigerweise sind diese Buchstaben Teil einer der wenigen Sprachen, für deren Aneignung es irrelevant ist, ob Masken, Ohrenschützer, Sonnenbrillen oder Birkenstockpantoffeln getragen werden. Altgriechisch ist bestimmt eine schöne, aber auch eine ziemlich tote Sprache. Die Schülerinnen und Schüler der Schule, an der ich unterrichte, sind aber ziemlich lebendig. Und eines ist sicher: Sie lernen kein Altgriechisch. Sie lernen nicht aus abstraktem Interesse. Sie sind zu großen Teilen Kinder von Familien, die für ein besseres Leben nach Deutschland gekommen sind. Sie sprechen kurdisch, türkisch, serbisch, arabisch, italienisch, bulgarisch, polnisch … diese Liste ließe sich nach Belieben fortsetzen und damit wären nur die gesprochenen Sprachen der Klasse 7a erwähnt. Sie alle haben trotz ihrer vielfältigen kulturellen, lebensweltlichen, finanziellen und natürlich sprachlichen Unterschiede mindestens zwei Gemeinsamkeiten: Sie wollen und sollen Deutsch lernen, damit sie in Deutschland vernünftig leben können. Für sie ist Sprache Leben. Und sie müssen beinahe in all der Zeit, in der sie sich mit Gleichaltrigen unterhalten können, eine Maske tragen, die ihre Münder bedeckt.
Ich will nicht pathetisch und theatralisch ein weiteres Kapitel der Querdenkenden aufschlagen. Vielmehr möchte ich das schildern, was ich mittlerweile täglich beobachte. Die Kinder bekommen, genauso wie ich, genug Luft durch die Maske. Sie sind fröhlich und machen ihre Späße, bewerfen sich beispielsweise mit Butterbrotdosen oder flitschen Haushaltsgummis durch den Klassenraum. Sie haben aber in der Schule täglich nur zehn Minuten, um sich einmal ohne Maske zu sehen. Und dann natürlich mit gebührendem Abstand. Darunter leiden nicht nur die Schülerinnen und Schüler, sondern bestimmt auch die Qualität der nächsten Vorschläge zum Jugendwort des Jahres! So ernst ist es.
Die Kinder sehen einander nicht sprechen, weil sie sich nicht »aufs Maul schauen« können. Damit entgeht ihnen eine elementar wichtige körperliche Dimension des Sprechens und Verstehens. Die Kinder sehen auch nicht meinen Mund, wenn ich mit ihnen im Unterricht spreche. Das ist vor allem dann problematisch, wenn ich, wie neulich, ein Übungsdiktat schreiben lasse. Dann wird aus »plump« »blop« und aus »Regeln brauchen« wird »Regeln rauchen«, der »Zauberer« wird »sauberer«. Der Ort, an dem Kinder aus nichtdeutschen Haushalten am besten die deutsche Sprache lernen können, verkommt damit also zu einem Hörbuch – und wir haben alle in Erinnerung, wie wenig man im Englischunterricht vom Hörbeispiel verstanden hat, wenn es kein Bild zum Ton gab: Das Ti Eitsch muss man sehen, um es zu verstehen.
Zuletzt möchte ich mich aber auch in eigener Sache beschweren. Ich würde gerne all die türkischen, kroatischen, arabischen und russischen Beleidigungen, die ich täglich zu Ohren bekomme, nicht nur akustisch und abgedämpft, sondern in hör- und sichtbarer Explosivität aufnehmen. Dann hätte ich eine reelle Chance, wenigstens ein paar Wörter des riesigen Sprachsammelsuriums richtig auszusprechen.
Kurz gesagt: Sprachunterricht mit Maske ist wie Sex mit Kondom. Es funktioniert. Man spürt irgendwie, dass da etwas passiert. Die feinen und so wichtigen Nuancen aber gehen verloren. Das aber, wofür Sex im natürlichsten Sinne einmal »gedacht« war, ist gar nicht möglich.
Und neben der natürlichen Reproduktion ist nicht weniger wichtig die soziale, die Beziehungen, Sinnzusammenhänge und Wertzusammenhänge schafft und, so werden es sicherlich Chomsky, Searle und Wittgenstein bestätigen, hauptsächlich durch Sprache und unmittelbares Miteinander-Sprechen sichergestellt wird. Masken mit Augen taugen dazu nicht.