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Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid
Folge 1
Vorwort – Der gebildete Bankräuber (01.02.21)

Schon zwei Mal war an dieser Stelle von den »Metamorphosen« des Ovid die Rede, am 15.9.2020 und am 1.11.2020. Aus einem Anlass, der nachstehend zu schildern ist, hat mich das 2000 Jahre alte Buch neu interessiert. Mein Ehrgeiz ist nun, in lockerer Folge die für meinen Geschmack interessantesten der vielen von Ovid in Hexametern erzählten Geschichten aus der antiken Mythologie vorzustellen. Das soll mal ausführlich, mal gerafft geschehen, selten in deutschen Hexametern, meist in schlichter Prosa. Dabei will ich vor allem das in den Vordergrund rücken, was ich an den alten Mythen auch heute unterhaltsam und/oder bedenkenswert finde. Es ist, wie ich glaube, eine Menge.

Vor gut zwei Jahren, bei einem Urlaub im Südwesten Frankreichs hatte ich im Wochenmagazin der Tageszeitung Sud-Ouest vom 14. Juli 2018 einen Artikel über einen Bankräuber namens Michel Masbou gefunden. Er soll – als »Räuber-Poet« – in der Region bekannt sein. Man weiß nicht viel über ihn, außer dass er bei seinen Raubüberfällen sein in der Sache gesetzwidriges, in der Form aber um Liebenswürdigkeit bemühtes Auftreten mit einer beträchtlichen literarischen Bildung zu würzen verstand – sowie mit der Begabung, lautlos zu verschwinden, notfalls auch aus Gefängnissen, was auf eine gewisse Wandlungsfähigkeit schließen lässt. Er scheint um 1950 in Toulouse geboren zu sein, beging seinen ersten Banküberfall 1980, rief anschließend selbst die Polizei, um beim  Anblick des flackerenden Blaulichts doch zu fliehen und für 10 Jahre in Mali und der Elfenbeinküste unterzutauchen. Von 1990 bis 1994 erleichterte er sieben  Banken um insgesamt etwa 1 Million Francs. Seine Technik dabei war bemerkenswert, wie zwei Überfälle von 1994 zeigen:

Am 22. Juli 1994 geht er in Begleitung seiner Freundin Corinna in eine Bank in der Nähe von Valence. Er hat sich dort mit einem Bankangestellten verabredet, vorgeblich wegen eines Immobilienkredits. Das Gespräch endet rasch, weil Michel Masbou plötzlich unter den erstaunten Augen seiner vermutlich blonden Corinna und des Bankangestellten eine Pistole zückt. Einige Tage nach dem Überfall ruft er den Bankangestellten an, um sich zu entschuldigen. Außerdem schickt er den weiblichen Angestellten Blumen.

Etwas früher oder später in Montpellier betritt er eine Bankfiliale in Handwerkermontour, erklärt, er müsse die Jalousien reparieren, macht sich auch an die Arbeit, scherzt mit den weiblichen Angestellten, trinkt Kaffe mit den männlichen, dann zieht er plötzlich die Pistole, befiehlt ihnen sich auf den Boden zu legen und fesselt sie. Anschließend rafft er die benötigten Geldscheine zusammen und, bevor er die Bank verlässt, nimmt er Rezitatorenhaltung ein und trägt einige lateinische Zeilen vor:

»………………………… si possem, sanior essem,
sed trahit invitam nova vis; aliudque cupido,
mens aliud suadet. video meliora proboque
deteriora sequor……………………………….«

»ach wenn ich könnte, wär ich ein besserer mensch, doch
mich beherrscht eine neue macht. anderes rät mir
die lust, anderes mir der verstand. ich sehe das gute und will es.
trotzdem tu ich das schlechte……………………………..«

Als ich das in der Zeitung las, suchte ich und fand die Originalverse. Bei Ovid, es sind die Zeilen 18-22 aus dem Siebenten Buch der Metamorphosen.

Die dort erzählte Geschichte spielt in mythischer Zeit. Sie dreht sich nicht um Geld, aber um Gold: Ein goldenes Fell (»Goldenes Vlies«), das sich in Kolchis (heute Georgien) am Schwarzen Meer befand, steht im Zentrum allseitigen Begehrens. Der Mythos spiegelt wahrscheinlich die politischen und mentalen Verwirrungen, die ausgelöst worden sein müssen durch eine Art »Goldgräberstimmung«. Sie könnte sich im 3. Jahrtausend vor Christus im heutigen Georgien breitgemacht haben, wo es damals nachgewiesenermaßen  ein Goldbergwerk gab und wo wahrscheinlich mit Fellen (daher das Vlies) Gold aus Flüssen herausgewaschen wurde.

Diese Goldgräberstadt Kolchis, deren Ruhm sich bis nach Griechenland herumgesprochen hatte, wurde, wie es die alten Mythen erzählen, von griechischen Kriegern bedroht. Sie wollten das dort aufbewahrte »Goldene Vlies« rauben. Als sie in Kolchis ankamen, machten sie sich sogleich an die räuberische Arbeit. Sie wurde beträchtlich erleichtert, weil sich Medea, die zauberkundige und rätselhaft verführerische Königstochter von Kolchis, in Iason, den Anführer der griechischen Räuber, verliebte. Medea schläferte für Iason den Drachen ein, der das Goldene Vlies bewachte. Dann half sie Iason, ihren eigenen Bruder zu töten und zu zerstückeln – alles um ihrer leidenschaftlichen Liebe willen. Medea und Iason machten sich nach getaner Untat auf den Rückweg von Kolchis nach Griechenland.

Bei der Ankunft in Korinth sind aus der Ehe zwei Kinder hervorgegangen. In Korinth treten aber bald auch die Charaktergegensätze der beiden massiv hervor. Medea ist düster, misstrauisch, hochsensibel, radikal leidenschaftlich, zerstörerisch, nachtragend und intelligent, Iason ist eher der Typ eines bis zur Kaltschnäuzigkeit oberflächlichen, ja nahezu spießigen Spitzengauners. Als er in Korinth eine neue Beziehung eingeht und sich von Medea trennen will, vergiftet Medea, nein, nicht Iason, das würde ihm nicht weh genug tun, sondern ihre Nebenbuhlerin. Schlimmer noch, um sich an ihrem Mann zu rächen, wird sie vor dessen Augen die gemeinsamen Kinder regelrecht schlachten. Bei all ihren Greueltaten ist ihr das Schreckliche ihres Tuns bewusst, sie weiß, dass sie es nicht tun muss und nicht tun darf, folgt aber trotzdem dem höllisch wilden Antrieb, das unglaubliche Verbrechen zu begehen.

»…………………………………….aliudque cupido,
mens aliud suadet. video meliora proboque
deteriora sequor……………………………….«

»……………………………………………….anderes rät mir
die lust, anderes mir der verstand. ich sehe das gute und will es.
trotzdem tu ich das schlechte……………………………..«

Wenn ein Bankräuber unserer Tage Ovid zitiert, dachte ich, dann sollte es sich  für einen, wenn auch pensionierten, Richter umso mehr lohnen, noch einmal in die Metamorphosen zu schauen. Wie es so ist, geriet der Vorsatz zunächst in Vergessenheit, erwachte aber wieder vor ungefähr einem Jahr, als die Corona-Pandemie begann und ich mich durch die plötzlich eintretenden Verwandlungen des alltäglichen Lebens auf das Grundthema der »Metamorphosen«  zurückverwiesen fühlte. Seitdem studiere ich das alte Buch mit der meinen Jahren geziemenden Langsamkeit und bin noch dabei und werde die Ergebnisse, wie übrigens schon einmal angekündigt, nun Stück für Stück hier darlegen.

Fortsetzung folgt.

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