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Orgien der Regelungslust?

Gesetzgebungskunst heute und vor 2500 Jahren (15.03.21)

 

I. Eine Orgie der Regelungslust

Wir erleben in Deutschland gerade eine veritable Orgie der staatlichen Regelungslust. Versucht wird die Quadratur des Kreises oder, zum Beispiel, eine Methode, wie man Menschen begegnet ohne sie zu treffen. Man könnte auch sagen: Wie man eine Nuss knackt, ohne die Schale zu verletzen und zwar so, dass der Kern am Schluss zwischen Lufthansa, Mercedes und Amazon im Interesse des sozialen Zusammenhalts gerecht aufgeteilt wird, ohne dass es jemand merkt. Natürlich ist das unmöglich. Es muss aber trotzdem sein, weil es Menschen gibt, die, rein faktenbasiert, die Nuss knacken wollen und solche, die, ebenfalls rein faktenbasiert, es gerade verbieten wollen. Dann macht man eben beides, und zwar abwechselnd, immer mit derselben Nuss. Das hat keinerlei Logik, aber wenn man es sehr kompliziert ausdrückt, ergibt es ungefähr fünftausend Paragrafen, die schon deshalb kein Gericht so schnell für unwirksam erklären kann, weil man ja wenigstens lesen muss, was man nicht versteht, um begründen zu können, warum es Quark ist. Wobei der oberste Grundsatz der Verantwortlichen ganz offenkundig darin besteht, die Entscheidung über Wohl und Wehe, Freude und Schmerz seines Lebens auf gar keinen Fall dem Einzelnen zu überlassen. Schon, weil dann keiner was dran verdienen könnte und weil niemand der sogenannten »Verantwortlichen« sagen könnte, er habe den Bürger immer schon »ein Stückweit mitgenommen« und könne es jetzt verantworten, ihm, dem Bürger, und natürlich auch der Bürgerin seine/ihre Freiheit »auch ein Stückweit zurückzugeben, soweit es die Inzidenz und die Verhältnismäßigkeit erlauben, natürlich unter Vorbehalt …«

II. Solon von Athen

Es gab auch in früheren Zeiten Situationen, in denen man die Notwendigkeit neuer Gesetze spürte. Einer der berühmtesten Gesetzgeber war Solon von Athen (640 bis 560 v. Chr.). Er wurde dafür bekannt, dass er die Schuldsklaverei abschaffte. Menschen, die Schulden hatten, durften nicht mehr in Sklaverei verkauft werden. Ein Riesenschritt für die Zivilisation. Aber nicht nur Wirtschaft und politische Verfassung hat Solon reformiert, seine Gesetze, die er in rhythmisierter Sprache schrieb und in Holzstelen schneiden ließ, die auf dem Markt der Stadt standen, gaben auch zahlreiche Einzelweisungen, die das Privatleben und die politischen Einstellungen der Bürger in günstige Bahnen lenken sollten. Der Gesetzgeber als Erzieher – das ist also nichts Neues. Aber auf das »Wie« kommt es dann doch an.

Hier eine kleine unsystematische Blütenlese, zitiert – mit einiger Freiheit – nach dem Historiker Plutarch, der die solonischen Gesetzestafeln noch anfassen konnte.

III. Plutarch über die Solonische Gesetzgebung – Lust, Kommerz und Menschenkenntnis

»Unter den … Gesetzen Solons ist das eigentümlichste und überraschendste dasjenige, welches den mit Entziehung des Bürgerrechts bestraft, der sich im Falle des Bürgerkriegs neutral verhält und sich auf keine der beiden Seiten schlägt. Die Absicht dabei ist wohl, daß niemand sich der Allgemeinheit gegenüber gleichgültig und unempfindlich verhalten soll …

Bei (bestimmten) Heiraten verbot Solon die Mitgiften und verordnete, daß die Braut nur drei Gewänder und Hausgerät von geringem Wert, sonst nichts, mitbringen durfte. Denn er wollte, daß die Ehe nicht eine Geschäfts- und Kaufangelegenheit sein, sondern daß die Vereinigung von Mann und Frau zum Zweck der Kinderzeugung in Liebe und Zärtlichkeit geschehen sollte … Und wenn einer in der Schlafkammer einer reichen Alten einen jungen Mann ausfindig macht, der da wie ein Steinhuhn gemästet wird, so sollte er ihn fort und zu einem jungen Mädchen bringen, das einen Mann braucht …«

Wann hat je ein Gesetzgeber solche Mühe darauf gewendet, die Lust in der Ehe so sehr in den Mittelpunkt seines Denkens zu rücken?

»Gelobt wird ferner das Gesetz Solons, das einem Toten Böses nachzusagen verbietet. Denn fromm ist es, die Dahingeschiedenen als heilig zu betrachten … Lebenden übel nachzureden war nicht überall, sondern nur in der Nähe von Heiligtümern, vor Gerichten und Behörden und bei Sportveranstaltungen verboten … Denn es gehört sich nicht und ist ungezogen, seinen Zorn nirgendwo zu bezähmen; ihn allerdings überall in der Gewalt zu haben, ist schwer und für manche sogar unmöglich, und das Gesetz muß mit Rücksicht auf das Mögliche abgefaßt werden, wenn es wenige mit Nutzen und nicht alle ohne Nutzen bestrafen soll.«

Wann hat je ein Gesetzgeber soviel Verständnis für die Klatsch- und Spottlust der Menschen gehabt?

»Er gab ferner für die Ausfahrten der Frauen, für Trauern und für Festfeiern ein Gesetz, das Unordnung und Zuchtlosigkeit einschränken sollte. Er verordnete, daß eine Frau, wenn sie eine Reise machte, nicht mehr als drei Kleider bei sich haben, nicht mehr Essen und Trinken als für einen Obolos und keinen über eine Elle großen Korb mitnehmen, auch nicht bei Nacht reisen sollte, außer im Wagen mit vorgetragener Fackel. Bei der Trauerfeier schaffte er das Zerkratzen der Gesichter, das Singen von Klageliedern und den Brauch ab, auch bei Begräbnissen anderer mitzuheulen.«

Man kann eben alles übertreiben auch die Trauerarbeit.

»… und da er sah, daß der karge Boden mit Not denen, die ihn bebauten, Unterhalt bot, aber nicht imstande war, eine müßige arbeitslose Menge zu ernähren, so gab er dem Handwerk Ehre und ordnete an, daß der Rat auf dem Areopag die Aufsicht darüber zu führen hatte, woher jeder seinen Unterhalt beziehe, und die Müßiggänger bestrafte …«

Es klingt nach Sozialabbau und Verletzung des Datenschutzes – aber so ganz dumm ist es vielleicht doch nicht, wenn jeder gegenüber dem Gemeinwesen, das ihn schützt, erklären muss, was er dazu beiträgt.

»Wenn jemand eine Frau einem anderen Mann zuführte, betrug die Strafe zwanzig Drachmen, ausgenommen diejenige, die sich öffentlich verkaufen, womit er die Dirnen meint, denn die gehen ja ganz offen zu dem, der sie bezahlt …«

Dieses Gesetz brachte Solon den Ruf ein, der Erfinder der Freudenhäuser zu sein.

»Dem Sieger bei den isthmischen Spielen setzte er einen Preis von 100 Drachmen aus, dem Olympiasieger 500 Drachmen.«

Zum Vergleich: Ein Athener Richter bekam für einen Sitzungstag eine halbe Drachme und konnte davon einigermaßen leben. Reine Amateure waren die Sportler also auch damals nicht. Nochmal zum Vergleich: Ein mittelguter Zweitligaspieler kann heute auf ein Jahresgehalt etwa in der Höhe der Besoldung des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts rechnen.

IV. Condition humaine versus Condition statistique

Wenn man den Geist, der aus den solonischen Gesetzen spricht, ein wenig auf sich wirken lässt, so fällt auf, dass der damalige Gesetzgeber tief und verständnisvoll in die Gründe und Abgründe des Menschen und seines Treibens geblickt haben muss. Während die derzeitige Gesetzgebung so wirkt, als sei sie wohlvertraut mit der Welt der Statistiken, aber wenig mit dem Leben der Einzelnen und des Volks. Als habe man nächtelang mit Algorithmen gesprochen, aber nie mit einem Blumenhändler, einer Friseurin, einer Bäckerin, einer Hausärztin oder einem Schornsteinfeger. Wie konnte zum Beispiel der Gesetzgeber auf die Idee kommen, Corona-Subventionsbetrug dadurch zu bekämpfen, dass die Bürger nicht mehr selbst ihre Hilfsanträge stellen dürfen, sondern dazu Anwälte, Wirtschaftsprüfer etc. beauftragen müssen? Nichts gegen Anwälte, aber dass sie bessere Menschen sind als Gastwirte oder Buchhändler, darauf können eigentlich nur Juristen kommen. Waren es nicht Anwaltskanzleien, in denen z.B. die Cum-Ex-Geschäfte ausgetüftelt wurden? Jedenfalls war das erwartbare Ergebnis der obgenannten Gesetzgebung offenbar nicht, dass der Corona-Betrug aufhörte, sondern dass er, ganz im Gegenteil, professionalisiert wurde, und zwar in großem Stil!

Manche sagen, Solon habe den Gesetzen eine Geltungsdauer von einhundert Jahren gegeben. Vielleicht war es so. Es ist ja beliebt, Jahrhundertverträge zu schließen und Tausendjährige Reiche zu begründen. Wir möchten aber doch lieber dem Historiker Herodot Glauben schenken; er sagt, die Athener hätten Solon ihr Ehrenwort geben müssen, zehn Jahre lang die Gesetze einzuhalten. Solon kannte seine Mitbürger zu Genüge; es kann ihm nicht entgangen sein, dass sie ihre Ehrenworte, je mehr und je Größeres sie damit beschworen, zwar umso bereitwilliger sprachen, aber auch umso leichter brachen. Und Solon kannte sich selbst: Er wusste, wie begrenzt der Bereich war, den er übersehen konnte. Auch die klügste Absicht gleicht, wie der englische Philosoph John Langshaw Austin schrieb, einer Bergmannslampe: Sie beleuchtet von dem kleinen Bereich des Sichtbaren bestenfalls den winzigen Teil des Stollens, der in Blickrichtung liegt, und von dem Riesenreich des Unsichtbaren: nichts.

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