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Alles wird anders! – Die Metamorphosen des Ovid
Folge 3
Das Prooemium / Met I, 1–4 (01.03.21)

 

I. Die meistübersetzten lateinischen Verse?

In nova fert animus mutatas dicere formas
corpora. Di, coeptis – nam vos mutastis et illas –
adspirate meis primaque ab origine mundi
ad mea perpetuum deducite tempora Carmen!

neues erdichten möchte der geist: formen verändern, aus
körpern, ihr götter, immer neue gestalten schaffen. und
so wie ihr euch und alles verwandelt, so haucht mir die gunst ein, den
lauf der welten von anfang bis heute in lieder zu wandeln.

Diese ersten vier Zeilen des ersten Buchs der Metamorphosen werden Prooemium – Vorrede – genannt. Sie gehören vermutlich zu den meistübersetzten Versen der lateinischen Dichtung. In ihnen zeigt sich der Dichter Ovid dem deutschen Lateinschüler als äußerst widerspenstiger Geselle, der offenbar um jeden Preis bereit ist, den Lernenden zur Weißglut zu bringen. Für das deutsche Sprachgefühl schwer erträglich ist vor allem die Stellung der Wörter im Satz. Sie ist im Lateinischen sehr frei. Wenn man die vier Anfangszeilen der Metamorphosen in der Reihenfolge der lateinischen Wörter liest und unbearbeitet ins Deutsche stellt, lauten die vier Zeilen so:

in neue bewirkt geist veränderte sprechen formen
körper götter angefangen denn ihr habt verändert auch jene
beatmet meine ersten von anfang der welt
zu meinen ewiges bringt die zeiten das lied

Wir sehen: Der lateinische Leser hatte es nicht so bequem wie der deutsche, dem durch Artikel und Präpositionen sowie durch den Ort des Wortes im Satzgefüge das Erkennen kausaler, temporaler und modaler Verknüpfungen der Teilaussagen leicht gemacht wird. Der lesende Römer musste – und der Lateinschüler heute muss – die Entfaltung der sinnstiftenden Gedankenverhältnisse in den Sätzen durch sorgfältige grammatische Analyse vorbereiten und dann, wenn, wie nicht selten, Zweifel bleiben, den Inhalt durch Betrachtung des Kontexts und Intuition, notfalls auch durch Nachdenken erschließen. Mir war das als Schüler immer zu lästig und langwierig und auch zu schwer. Heute gibt es im Internet soviele Hilfsangebote, dass es leichter fällt, römische Sätze zu entschlüsseln.

II. Metamorphosen des Sinns

Im Internet, ich weiß nicht mehr, wo, las ich vermutlich auch, dass die ersten vier Zeilen der Metamorphosen von Ovid so raffiniert geschrieben sind, dass sich der Sinn von Zeile zu Zeile verändert, also Metamorphosen durchleidet.

In nova fert animus – Bis hierhin könnte das heißen: Der Geist geht gegen das Neue an.

In nova fert animus mutatas dicere formas – Von neuem lässt der Geist veränderte Formen sprechen.

In nova fert animus mutatas dicere formas corpora – Der Geist stellt neue Körper her, die er in veränderten Formen reden lässt.

Man kann den sich im Fortfließen der Verse ergebenden Veränderungen des Wortsinns vermutlich noch weiter nachspüren in den lateinischen Sätzen, in denen die Substantive ohne die wachhabenden Artikel umherstreunern. Verblüffend war für mich jedenfalls zu lernen, dass die „Metamorphosen“, also die Veränderungen, Verwandlungen nicht nur auf der Sinnebene das große Thema des Buchs sind, sondern dass die poetische Reflexion auch in der Bewegung des Satzes  hervorblitzt. Und damit zugleich etwas über die Fähigkeit der Dichtkunst sagt, der Welt einen Sinn zu geben, den sie vorher vielleicht gar nicht hatte.

Und der sich bei jedem neuen Lesen und erst recht bei jedem neuen Zuhören ein wenig verschieben, mildern. verschärfen, jedenfalls ändern kann. Wie Musik ihren Sinn ändert, je nachdem wer sie spielt und wo und wie und wann sie und für wen sie erklingt – weshalb es so wichtig ist, dass die Musik und die Poesie vor Publikum und in realen Räumen spielen kann: Die Feste der Kunst sind nicht reproduzierbar und digitalisierbar.

Fortsetzung folgt.

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