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Michelangelos schönstes Gedicht (1.10.19)

Michelangelo Buonarrotti (1475–1564) war nicht nur Maler, Bildhauer und Architekt, sondern schrieb auch mehrere hundert Gedichte. Eines der schönsten Gedichte ist nach Einschätzung vieler Kenner das Sonett 151. Michelangelo spricht in diesem Sonett zugleich über seine Arbeit als Bildhauer und über seine unglückliche Liebe zu einer Frau. Die Frau ist von Kennern identifiziert worden als die berühmte Vitoria Colonna (1492–1547). Sie muss außergewöhnlich gutaussehend, geistreich und gemütvoll gewesen sein. Ihr Mann starb früh und sie schrieb Gedichte, in denen die Trauer über den Verlust ihres Mannes aufbewahrt ist.

Hier ist Michelangelos Sonett 151, zuerst die italienische Fassung und dann meine (ungereimte) deutsche Übersetzung:

soneto 151

Non ha l’ottimo artista alcun concetto
c’un marmo solo in sé non circonscriva
col suo superchio, e solo a quello arriva
la man che ubbidisce all’intelletto.
Il mal ch’io fuggo, e ’l ben ch’io mi prometto,
in te, donna leggiadra, altera e diva,
tal si nasconde; e perch’io più non viva,
contraria ho l’arte al disïato effetto.
Amor dunque non ha, né tua beltate
o durezza o fortuna o gran disdegno
del mio mal colpa, o mio destino o sorte;
se dentro del tuo cor morte e pietate
porti in un tempo, e che ’l mio basso ingegno
non sappia, ardendo, trarne altro che morte.

sonett 151

es hat kein künstler auch der größte nicht eine idee
von einem bild in seinem kopf die nicht im marmorstein
schon längst gewartet hätte. und nur die hand des künstlers
die dem geist gehorcht kann dieses bildnis schaffen.
das übel das ich fliehe und das gut nach dem
ich suche sind beide, schöne göttliche und holde
frau, verborgen in dir. und doch, was immer ich erstrebe
ich erreiche stets was ich vermeiden wollte.
die liebe nicht nicht deine schönheit
deine kälte nicht das schicksal auch das unglück
nicht hat schuld an meinem elend.
du trägst ja doch in deinem herzen beides. tod
und liebe zugleich – für dich entbrannt mein schwacher geist
kann nichts davon gewinnen als den tod.

Man kann sich fragen, woher solche merkwürdigen Gedichte kommen, woher Kunst überhaupt? Woher nimmt ein Dichter seine Zeilen, die Worte, den Rhythmus, die bestimmte Färbung eines Gedankens, woher nimmt der Bildhauer den gewissen Gesichtsausdruck eines Esels oder eines Helden? Wie bringen Künstler das zustande? Es gibt Lehrbücher und Lehrer. Aber reicht es, nach Regeln zu schaffen?

Michelangelo scheint im künstlerischen Schaffensprozess zwei gegenläufige Bewegungen zu konstatieren, einmal aus dem Material selbst (der Marmor steht für die materielle Seite des Kunstwerks) und dann im Zugriff der vom Verstand wohlbelehrten Hand des Künstlers auf das Material. Und in der Liebe, von der Mchelangelo ja auch spricht, besteht ebenfalls ein Zusammenspiel von Körper und Geist; der Körper trägt – der Möglichkeit nach – Liebe in sich, aber auch Tod. Und der unglückliche Liebende wie der unglückliche Künstler können scheitern, weil sie die Möglichkeit der Liebe oder des gelungenen Kunstwerks verfehlen. Dann haben sie nichts in der Hand als den Tod.

Peter Gillgren, Ästhetik-Professor an der Universität Stockholm, schreibt zu Michelangelos Sonett, wie der Gott Vulkan müsse der Bildhauer unter die Erde gehen, tief hinunter steigen zu den verborgenen Geheimnissen der Natur, wenn er Erfolg haben und die hellen Funken der künstlerischen Schöpferkraft hervorbringen wolle. Und dann zitiert er den Bericht des französischen Diplomaten Blais de Vigenère, der Michelangelo in seinem Atelier besuchte:

»Ich sah Michelangelo bei seiner Arbeit zu. Er hatte die 60 schon überschritten und obwohl er nicht besonders kräftig gebaut war, ließ er in einer Viertelstunde mehr Splitter von einem harten Marmorblock stieben als drei junge Bauleute in einer Stunde. Niemand könnte das glauben, der es nicht mit eigenen Augen gesehen hat. Und er ging derart angriffslustig an die Arbeit, mit solcher Kraft und solchem Feuer, dass ich dachte, der Block würde in lauter Trümmer zerbrechen. Mit einem einzigen Hieb brach er Stücke von drei, vier Fingerbreiten los, und zwar so genau an der markierten Stelle, dass er, wenn nur ein kleines bißchen mehr von dem Marmor abgesprungen wäre, das ganze Kunstwerk verdorben hätte.«

Und Gillgren schreibt dazu »Die Metapher im Sonett 151 ist in gewissem Sinn platonisch und wird auch oft genau so gedeutet, indem gesagt wird, sie zeige wie wichtig es ist, dass der Künstler eine Idee (oder einen Begriff) hat von dem, was er schaffen will. Wie auch immer. Das Gedicht zeigt auch die Grenzen, die die Natur setzt: Der Marmorblock enthält alles, was der Künstler sagen kann, so ähnlich wie eine Stadt von ihrem Hinterland abhängig ist, oder (in den Begriffen der Linguistin Julia Kristeva gesprochen) die ›thetique‹ von der ›chora‹, (frei übersetzt: das Symbol von dem unendlichen Fluidum an formungsfähigem Material). Es gibt keine künstlerischen Ideen oder Abstraktionen, die jenseits dessen lägen, was uns die Natur gibt.«

Kurz gesagt: Es gibt keinen leichten Weg, weder zur Kunst noch zur Liebe, man muss immer durch des Teufels Küche.

Hinweise:
Rilkes Michelangelo-Übersetzungen: http://www.sonett-central.de/rilke/michelangelo.htm
Michelangelo. Sämtliche Gedichte. Italienisch und Deutsch, Frankfurt 1992, hrsg. und übers. von Michael Engelhard
Zu Sonett 151: vgl. z.B. https://restaurars.altervista.org/la-man-che-obbedisce-allintelletto-il-bellissimo-sonetto-di-michelangelo-dedicato-allarte/: »La man che obbedisce all’intelletto«: il bellissimo sonetto di Michelangelo dedicato all’arte.
Peter Gillgren: Siting Michelangelo: Spectatorsahip, Size Specifity and Soundscape, Nordic Academic Press 2018

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