»Muck passt nicht« – Friedrich Muck-Lamberty und seine Schar (15.06.20)
Zu einem Buch von Heidemarie Hecht
Welch ein Plot! Welch großes Kino! Und alles reine lebendige Wahrheit! Das war es, was ich dachte, als ich das 172 Seiten starke Buch von Heidemarie Hecht über das Leben des Friedrich Muck-Lamberty aus den Händen legte.
Schon die ersten 30 Jahre in Muck-Lambertys Leben waren ein veritables Roadmovie: Geboren wurde er am 14. Juli 1891 im äußersten Westen des damaligen deutschen Kaiserreichs, in Straßburg. Der Vater scheint ein windiger Typ gewesen zu sein; jedenfalls zog die katholische Familie häufig um, wurde in den Niederlanden vorübergehend sesshaft, da war Friedrich noch ein Kind. Mit 14 riss der Knabe, der sich wegen seiner geringen Körpergröße (1,62 m) in Anlehnung an das bekannte Hauff-Märchen den Beinamen »Muck« gab, von zu Hause aus und begann ein Nomadenleben. Er heuert in Stuttgart bei einem Reformhaus (heute wir würden wir vermutlich »Bio-Laden« sagen) an, geht nach Brünn in Mähren und zieht dann fast ein Jahrzehnt als völkisch-freigeistiger Wandervogel umher. Im ersten Weltkrieg war er auf Helgoland Soldat in einer Vegetarier-Kompanie, nach dem Krieg wieder Wanderprediger und Volkstanzmeister, vor allem in Thüringen, wo er seine »Neue Schar« mit einem Horn zusammenblies und Tausende ihm zujubelten; in seinen von Gefühlen überquellenden Ansprachen verdammte er den Alkohol, die Anonymisierung der großen Städte und die Ausbeutung: vor allem der Frau durch den Mann. Bis sich herausstellte, dass er selbst ein umtriebiger Mädchenbeglücker war, angeblich, um einen »deutschen Kristus« zu zeugen und gleichzeitig »die geschlechtliche Not der Frauen« nach dem Krieg zu beheben.
Ab 1921 wird Muck-Lamberty sesshaft, als Kunsthandwerker in Naumburg leitet er eine »Werkschar«, die nach Kibbuz-ähnlichen Prinzipien produzieren und zusammenleben soll. Man drechselt Kerzenständer und Kronleuchter. Geschmacksrichtung: Ländlichdeutsch. Und einträglich. Vor allem für den mittlerweile glücklich verheirateten Lamberty. Ein cleverer Selfmademan ist er, Villa und Mercedes inbegriffen. Vom Sozialismus des deutschen Herzens, den er in Zeitungsartikeln und Reden predigt, lässt er seine Arbeiter nicht allzuviel profitieren. Über Hitler hat er meist keine allzu gute Meinung (ein »syphilitischer Typ«, sagt er später). Er legt sich mit den Nazis an, kommt in Haft und wieder frei, nach dem Krieg bezichtigen ihn die Kommunisten der Sabotage, 1951 flieht er in den Westerwald, wieder befasst er sich mit Kunsthandwerk, diesmal mit Strom aus selbsterzeugter Wasserkraft. Zwei Jahrzehnte später gilt er als Landkommunarde der ersten Stunde und findet Bewunderer aus der westdeutschen 68er-Szene. Mit 80 Jahren soll er nackt und bekifft im Garten getanzt haben, seine ebenfalls unbekleidete Partnerin war ein halbes Jahrhundert jünger. »Die Gedanken sind frei!« schmetterte seine Familie bei seiner Beerdigung im Januar 1984 auf den Höhen des Westerwalds, wo der Wind so kalt pfeift, und auch ein altes katholisches Marienlied erklang: »Meerstern, ich dich grüße!«
Das alles und noch viel mehr erfährt der gebannte Leser in dem Buch von Heidemarie Hecht. Die Biografie eines Mannes, der das Leben und die Jugend feierte. Und sich den Tiefenströmungen der Volksseele verbunden fühlte, was manchmal lustig, manchmal aber auch gefährlich war. Unter regionalen Gesichtspunkten besonders interessant sind natürlich die mit bunten Details gespickten Kapitel über die damals sensationelle Thüringen-Tournee des Muck-Lamberty, die in Coburg begann und auf der Leuchtenburg endete, wo der Skandal um Mucks Frauenbeziehungen zum Einschreiten der Ordnungsbehörden führte. Die Stadt Kahla widmete ihm 1921 sogar ihr Notgeld: Den 75-Pfennig-Schein von 1921 ziert ein Bild von Muck-Lamberty nebst spöttischem Vierzeiler:
Was ist vom guten Vorsatz nun,
mein lieber Muck, geblieben?
Zähl nur die Häupter Deiner Schar,
es sind statt sechse – sieben!
Ein lesenswertes Buch, schön gestaltet, mit vielen zeitgenössischen Photographien ausgestattet. Nicht nur, dass Heidemarie Hecht die Geschichte des Friedrich Muck-Lamberty in anziehender und geistreicher Sprache erzählt. Das Buch lädt auch zu fragender Verwunderung ein: Zum Beispiel darüber, wie es ein einzelner Mensch mit lauter Stimme, wehendem Haar, heißem Herzen, sangesfrohem Gemüt und ohne jeden Anflug von herkömmlicher Bildung schaffen kann, Menschen für ein vollkommen vages und undurchdachtes Ziel einzunehmen.
Abgerundet wird das Buch durch zwei Kurzbeiträge: Jens-Fietje Dwars zeigt in seinem Essay den geistesgeschichtlichen Zusammenhang, in dem Muck-Lamberty steht. Er zieht auch eine Linie zu der Strömung, die heute den Begriff »völkisch« für sich in Anspruch nimmt. Sie sei – wie Mucks Schar – mehrheitlich weder mit den Nazis gleichzusetzen noch biete sie eine politische Alternative, habe aber, wie Muck-Lamberty und die Seinen, »ein seismographisches Gespür für echte Probleme, Verwerfungen und Verluste«. Einen humorvollen und sehr persönlich gehaltenen Blick wirft schließlich Ingo Lamberty, Redakteur beim WDR in Köln und Enkel unseres Helden, auf seinen Großvater, der in allen Systemen aneckte. Eindrucksvoll die Schilderung der Beerdigung: »Als die Lieder gesungen sind, wollen wir den Sarg in die Grube lassen. Aber – der schöne Fichtensarg klemmt. … Es ist wie immer: Muck passt nicht.«
Heidemarie Hecht: »An alle Lebendigen«. Friedrich Muck-Lamberty – Ein völkischer Freigeist. Mit Erinnerungen von Ingo Lamberty. Herausgegeben und gestaltet von Jens-Fietje Dwars. Bucha bei Jena: Quartus Verlag 2020.
172 Seiten, Taschenbuch, 16,90 Euro
Die Fotos in diesem Beitrag stammen vom Verfasser.