Ode an das Nichts (15.07.20)
Johannes Daniel Falk ist einer der »poetae minores« der Weimarer Klassik, an die zu erinnern immer mal wieder lohnt. Sein Ruhm kann bis heute im Vergleich zu dem der Goethe, Schiller, Herder, Wieland nicht so zur Geltung kommen, wie er es vielleicht verdient hätte. Das klingt nach historischer Ungerechtigkeit. Aber wir müssen kein Mitleid haben, denn Dichter wie Falk wären vermutlich ohne die Großen, in deren Schatten sie stehen, niemals nach Weimar gekommen und hätten sich woanders vielleicht gar nicht zu ihrem hochbeachtlichen Format entwickeln können, wenn sie nicht den nahen Umgang mit den Genies genossen hätten.
Freuen wir uns also lieber an ihrem Werk, das im Falle Johannes Daniel Falks die kostbarsten Überraschungen bereit hält. Eine von ihnen kam mir kürzlich in den Sinn, als ich einen ganzen Sonntag dem Studium der Feuilletons unserer großen Zeitungen widmete und mich beim Lesen der Verdacht beschlich, dass in all den Stunden ein unendlich müdes gähnendes Nichts in mich eingesickert war. Oder, um es in der Sprache eines der Feuilletonisten zu sagen, ein äußerst deplorabler ennui hatte mich befallen, den ich in Bier ertränkt hätte, wäre mir nicht Falks »Ode an das Nichts« in den Sinn gekommen. Dass sie nicht nur mir, sondern auch anderen Lesern heute etwas zu sagen hat, hatte ich schon im vorigen Jahr des öfteren festgestellt. Auf einer Lesereise mit Thüringer Gedichten zeigte sich das Publikum von Erfurt bis Meiningen und von Gotha bis Heiligenstadt immer wieder amüsiert und nachdenklich, wenn Alice Thielmann diese satirisch-melancholischen Zeilen vortrug:
An das Nichts
Erhabne Mutter unsrer Erde,
O Nichts, du Urquell alles Lichts,
Dir tönt mein Lied. Gott sprach: Es werde!
Da ward die ganze Welt aus Nichts.
Versprechungen der Großwesire,
Aprillengunst des Hofgezüchts,
Prälatendemut, Mädchenschwüre,
Baut nimmer drauf! Ihr baut auf – Nichts.
Macht, Herrschaft über Meer und Länder,
Pomp, Herrlichkeit des Bösewichts,
Stern, Ludwigskreuz und Ordensbänder,
Was sind sie einem Weisen? – Nichts.
Ha, was stolzierst denn du auf Ahnen,
O hochgeborner Taugenichts!
Du pflegst des Weidwerks, hegst Fasanen,
Und was verdankt dir Deutschland? – Nichts.
Selbst philosophische Systeme –
Kants Lieblingsjünger, Reinhold, spricht’s –
Von Plato bis auf Jakob Böhme,
Sie waren samt und sonders – Nichts.
Was füllt, wenn eine Schlacht verloren,
Den Auszug manches Hofberichts?
Was das Gehirn der Senatoren
In mancher deutschen Reichsstadt? – Nichts.
O wie so schön zum Ringelkragen
Steht dieser Ernst des Amtsgesichts!
Jetzt schließt die Session. – Der Wagen
Rollt vor. – Was ward beschlossen? – Nichts.
Was ist der Inhalt oft, ihr Musen,
Des hochgepriesensten Gedichts?
Was schwellt des Modefräuleins Busen
Und der Poeten Börse? – Nichts.
Monarchen, Opfer der Chimäre
Des europä’schen Gleichgewichts,
Der Kern zahlloser Kriegesheere
ist hingeopfert, ach! um – Nichts.
Wohlan, dingt neue Legionen!
Einst fragt der Herr des Weltgerichts:
Warum erschlugt ihr Millionen?
Was könnt ihr ihm erwidern? – Nichts.
Laß blutig rot Kometen flammen!
Verlisch, o Glanz des Sonnenlichts!
Du schöner Weltbau, stürz zusammen!
Auf Trümmern triumphiert das – Nichts. –
Was bin ich selbst? – Ein Kind der Erde,
Der Schatten eines Traumgesichts,
Der halbe Weg von Gott zum Werde,
Ein Engel heut, und morgen – Nichts.
Ich steig auf Felsen, ich erklimme
Gebirg im Strahl des Mondenlichts:
Wo find ich Ruh? – Ach! Eine Stimme
Ruft dumpf: Im Schoß des alten Nichts. –
Diese Ode »An das Nichts« umfasst 13 (!) Strophen: Das Nichts hat viele Gesichter, und das, obwohl es ja in Wirklichkeit gar nicht existiert. Die menschliche Sprache bringt es zuwege, dass wir über alles reden können – sogar über das Nichts. Das wissen Werbeleute, Leitartikler, Politiker, Juristen, Dichter und jeder andere, der manchmal, fast wie ein Gott, aus dem Nichts etwas zaubern muss.
In gefälligen und überraschenden Reimen über solche Abgründe zwischen Denken und Sein zu balancieren, erfordert allerhand Artistik. Umso angenehmer, wenn sich die Worte dabei nicht in Bosheit oder pointenseliger Komik erschöpfen, sondern uns wie nebenbei auch Auskunft über die Welt und uns selbst geben. Dann wird aus gescheitem Wortwitz Kunst, haltbare Literatur.
Als Johannes Daniel Falk 1797 nach Weimar kam, eilte ihm der Ruf eines literarischen Spaßvogels voraus. Er schrieb nicht nur satirische Gedichte, sondern auch scharfsichtige sozialkritische Beobachtungen und urkomische Stücke fürs Puppentheater sowie nationalbewusste, in Weimar unerwünschte Pamphlete gegen Napoleon. Was wunder, dass die ortsfeste Klassik fremdelte mit dem selbstbewussten, kinderreichen und meist wohlgelaunten Mann, den Goethe einen »Narren« nannte.
Das änderte sich 1806, als ausgerechnet dieser Narr mit einem ebenso mutigen wie pfiffigen Husarenstück half, Weimar vor der Brandschatzung durch Napoleons Soldaten zu schützen. Der Herzog ernannte ihn flugs zum Legationsrat, der vielen Bürgern und Bauern in den Jahren des Kriegs ein Helfer wurde – und doch, wie zum Hohn, musste er 1813 in wenigen Wochen vier seiner sieben Kinder zu Grabe tragen. Sie fielen der damals kriegsbedingt grassierenden Typhus-Epidemie zum Opfer. Ein lebensbedrohlicher Zusammenbruch Falks war die Folge, aus dem heraus er beschloss, sich den Schwächsten zuzuwenden: Verwaiste und verwilderte Kinder sammelte er von der Straße, gab ihnen ein Dach über dem Kopf, lehrte sie schreiben, lesen, beten, singen und arbeiten. So wurde Falk der Urvater der Inneren Mission – aus dem Nichts heraus.
Im Herbst 1825 beging der Großherzog sein 50-jähriges Regierungsjubiläum. Die Stadt feierte mit. Falk hat oft berechnet, wie viele Kinder er von dem Geld hätte speisen und einkleiden können, das für die Fackeln und Feuerwerke einer einzigen Prunknacht aufgewandt wurde. Aber anstatt zu rebellieren, schmückte der »Narr« sein Kinderheim. Danach wurde er krank und starb wenige Wochen später, am 14. Februar 1826. Seine Frau Caroline Falk schrieb:
»Ich kann sagen, er hat mich nur einmal in seinem Leben beleidigt, und das war durch seinen Tod … Sein letzter Kampf war herzzerreißend … wir plagten ihn wohl ein wenig, indem wir ihm mehrere Speisen vorschlugen und auftrugen … Lebe recht wohl, alter Freund und komm bald wieder! Deine Caroline bis ans Ende meiner Tage.«